Die Insel ist reif für die utopische Realität

Die 180 Einheimischen der „Sommer-Republik Harrier Sand“ suchen ihr Glück in den „trüben Gewässern der Wirklichkeit“ und lassen sich dabei auch vom Regen nicht stören. Viel zu wichtig sind die Themen des „Insel-Kongresses“: Arbeit, Arbeit, Arbeit und ein Gezeiten-Lehrpfad für das Weser-Eiland

Ein Amt nimmt persönlichen oder gesellschaftlichen Ballast entgegen

von Harrier SandHenning Bleyl

In Utopia regnet es. Wie schon auf dem Weg dorthin. „Ihr müsst jetzt elend lang geradeaus und dann irgendwann über den Deich“, sagte vorhin der tropfende Herr am Straßenrand. So nämlich gelangt man auf den Harrier Sand, eine Weser-Insel nördlich von Bremen. 180 UtopistInnen aus der ganzen Republik haben sich ebenfalls dorthin auf den Weg gemacht, um ein Wochenende lang „Sommer-Republik“ zu sein, um eine andere Welt zu entwerfen. Oder wenigstens ein ganz persönliches besseres Leben.

Viel Zeit ist das nicht, zumal etliche schon am ersten Morgen, am vergangenen Samstag, an vorzeitigen Aufbruch denken. „Die Unterkünfte kosten zu viel Energie“, klagt eine Hamburger Musiktheater-Regisseurin, „zu viele Schnarcher und Furzer, Massenlager eben.“ Außerdem vermisse sie „die konkreten Netzwerkideen“, den Erfahrungsaustausch darüber, wie sie ihr erträumtes „fahrendes Theater“ endlich realisieren könne. Auch der Kulturamtsleiter der nächstgelegenen Stadt – Osterholz-Scharmbeck – hat eine nasse Zeltnacht hinter sich, er ist hier, weil ihn die Insel als potentielle Künstlerkolonie interessiert.

Jetzt tut Frühsport not. Am Strand stehen die Riemenbänke des „Ruderparks Freiheit“: Für 20 Cent darf man 1.000 Meter zurücklegen, als Reiseziele stehen Freiheit, Zukunft und „drüben“ zur Wahl. Wer nicht nur sich, sondern gleich das gesamte Eiland in Bewegung versetzen will, kann einen Pflock in den Boden rammen. Ein Seil dran binden und kräftig gen Amerika ziehen. „Das ganze Gerede bringt ja nichts, wenn man nicht auch selber mal anfasst“, erklärt Jörg Wagner von der Aktionsgemeinschaft „Utopisten voran!“.

Auf diesem Kongress trifft man eher Künstler als Kommune-Vertreter, statt über Infostände zum selbst bestimmten Wohnen-Leben-Arbeiten und dergleichen stolpert man allerorten über Installationen. Nicht zufällig ist das Lieblingswort von Organisator Oliver Behnecke von der „Reisenden Sommer-Republik“ (siehe Infokasten) „Dramaturgie“. Behnecke will „Kommunikationsräume inszenieren“, dazu gehörte die Anreise der meisten Teilnehmer per Segelschiff, auch das erwähnte Übernachten an Bord und in Großzelten.

Und wo kann man mal eine dramaturgische Pause machen? Vielleicht in der „Utopischen Bibliothek“, im Zivilleben das Wartehäuschen des Fähranlegers. Dort schmökert man in der Ernst Bloch-Gesamtausgabe oder verschickt das „Manifest der reisenden Sommer-Republik“ in Postkartenform: „Der Kanzler will nicht mehr. Wir wollen aber. Als lebhafter Schwarm durchschwimmen wir die trüben Gewässer der Wirklichkeit und verfolgen die utopischen Themen (...) das Ziel ist reiche Beute.“

Das gefragteste Thema heißt „Utopie der Arbeit“. „Meine Frau und viele Freunde sind arbeitslos“, erzählt ein Bühnentechniker aus Freiburg, da müsse man schon mal „mentale Dämme gegen den Absturz in einen für wertlos befundenen Bereich“ bauen. Zwischen Wimpel, Geweih und maritimer Seidenmalerei sitzt er nun im „Inselhus“ und versucht mit den anderen, eine „deutsche Musterrepublik“ zu entwerfen. Da dort die „Wertigkeit der Arbeit an ihrem Sinn gemessen werden soll“, muss letzterer erstmal definiert werden. Vorschlag: Arbeit muss „bedürfnisorientiert“ stattfinden – aber was heißt das schon? „Früher hatten die doch auch keine Lust, bei Wind und Wetter ihre Mammuts zu erlegen“, wirft jemand ein.

Ein grauschnäuziger Herr will daraufhin lieber „die Staatsquote halbieren“, also weniger Steuern zahlen. „Wenn dann alles günstiger ist in meiner neuen Republik, muss man auch keine Schwarzarbeiter mehr beschäftigen.“ Ein Zaungast, aus dem gegenüberliegenden Brake mit der Fähre übergesetzt, nickt begeistert – so schnell werden Utopien mehrheitsfähig.

Die Profis sehen die Sache allerdings skeptischer: „Wenn man sich lange genug damit beschäftigt, wird man geradezu zum Dystopisten“, sagt eine Frau, die das Filmprogramm des Kongresses vorbereitet hat. Ein Dystopist sei das Gegenteil eines Utopisten. Ihr persönlicher Frust: „Wenn man Filme über’s Geldabschaffen und dergleichen sucht, stellt man fest: So was gibt‘s gar nicht.“ Dafür gibt es im Harrier-Sand-Utopia eine Amtsstube, die „Ballastannahmestelle der Bundesrepublik Deutschland (BuBa)“. Korrekt gekleidete Sachbearbeiter nehmen persönlichen, gesellschaftlichen oder ideologischen Ballast entgegen: „Überlegen Sie, was Sie im Entwurf Ihres künftigen Lebens nicht mehr vorfinden möchten“, sagt Herr Orlac gerade zu einem noch unentschlossen Utopisten. In der Sammelstelle, wo der dazugehörige Lagerist alle abgegebenen Objekte akribisch vermisst und fotografisch dokumentiert, finden sich bereits die üblichen Verdächtigen: Eine Uhr, ein Päckchen Tabak, die Hartz-IV-Broschüre. Dann gibt eine Frau - nach längerer Erörterung mit den BuBa-Beamten – einen Stein ab. Als Symbol dafür, „dass das Individuelle in der Masse übersehen wird“, wie sie in das beizufügende Formular einträgt.

Warum findet all’ das ausgerechnet auf Harrier Sand statt? Weil hier schon mal Utopisten lagerten. 250 Menschen, darunter 30 Jugendliche, die nach Amerika auswandern wollten, aber vergeblich auf ihr Schiff warteten. Also kampierte die überwiegend aus Hessen stammende Gruppe 1834 für einige Wochen auf der Insel – bis das Schiff doch noch kam und sie in die „Neue Welt“ brachte. Aus der geplanten Gründung einer freien Republik wurde wegen interner Zwistigkeiten allerdings nichts.

Nichtsdestotrotz beflügelt das historische Beispiel die Gemüter, begeistert werden Spuren gesucht: Etwa die Reste des alten Kuhstalls, in dem die Ahnen im Geiste biwakierten. Dort kann Genius-loci-trächtig konstatiert werden: Die historische Herberge der Weltverbesserungswilligen hat sich zum einzigen Biohof der Insel gemausert.

Außer dem Ökobauern und vereinzelten Künstlern sind die heutigen Harrier-Sand-Bewohner eher unutopische Leute. Die 700 Insulaner verteilen sich auf ein Dutzend Höfe und 220 rege genutzte Ferienhäuschen. Dort grüßt der ein oder andere getöpferte Seemann aus dem Vorgarten, eine heimelige Bank trägt die Inschrift „Sett di eben dool“. Allerdings hat man nicht das Gefühl, dieser Aufforderung wirklich Folge leisten zu sollen. Was halten die Anlieger von der gerade stattfindenden Suche nach der besten aller Welten? Zunächst mal haben sie ihren eigenen Superlativ: „Wir sind die größte Flussinsel Deutschlands“, sagt ein stämmiger Mann mit stramm sitzendem „Inselfreunde Harrier Sand e.V.“-T-Shirt. „Manche mögen ja Utopien haben. Unser Problem ist: Hier bleibt zu viel Müll liegen.“ Womit er freilich die Touristen im Allgemeinen meine, nicht die ordentlichen Wochenend-Utopisten.

Schließlich ist auch die Fraktion der bodenständigen Regional-Utopier vertreten. Zum Beispiel der Mann aus dem rechts der Weser gelegenen Dörfchen Sandstedt, der endlich seinen „Gezeiten-Lehrpfad“ einrichten will. „Keiner macht mehr was im Ort“, also habe er vor drei Jahren mit Freunden eine „Zukunftswerkstatt“ organisiert. Jetzt laufe ein aussichtsreicher Antrag auf Aufnahme ins niedersächsische „Dorferneuerungsprogramm“ – was ja letztlich nur ein anderes Wort für institutionalisierte Utopie ist. Vor allem eines, das auch Dauerregen aushält.