Kopien einer Katastrophe

Vor gut einem Jahr verletzte sich der Turner Ronny Ziesmer im Training so schwer, dass er seitdemim Rollstuhl sitzt. Er versucht, das Trauma durch offensive Öffentlichkeitsarbeit zu bewältigen

„Wir stehen herum und werden begafft wie die Affen im Zoo“

AUS KIENBAUM RONNY BLASCHKE

Und wieder senkt sich das Licht der Kamera auf den jungen Mann im Rollstuhl. Vor dem grellen Scheinwerfer bleibt nichts im Verborgenen, keine Falte, kein Blinzeln, nicht mal ein unbedeutendes Stirnrunzeln. Er redet, freundlich, geduldig, wie man ihn kennt. Beantwortet Fragen, die er schon vor Monaten beantwortet hat, wieder und wieder. Dann schweigt er, dreht sich, wendet sich, wie es sich der Fernsehreporter wünscht. Ronny Ziesmer war Leistungssportler, einer der besten deutschen Turner. Bis er vor 13 Monaten bei einem Sprung stürzte und unheilbare Halswirbelverletzungen erlitt. Den Sport musste er aufgeben, aber Leistung bringt er noch immer.

Fünf Kamerateams sind an diesem Dienstag gekommen, 20 Journalisten und ein Dutzend Ehrengäste. Sie alle stehen in der Turnhalle des Bundesleistungszentrums in Kienbaum, im Osten Berlins, dort, wo sich der Unfall am 14. Juli 2004 ereignet hatte. Sie alle kennen die Geschichte des 26-Jährigen: den tragischen Sturz, die zehnmonatige Leidenszeit im Krankenhaus, die zaghaften Fortschritte und die gefeierte Rückkehr in die Öffentlichkeit. Und trotzdem muss Ziesmer seine Erinnerungen schildern, dutzendfach. Hunderte Medienanfragen sind bei seinem Berater Eckhard Herholz eingegangen. Viele wollten den Jahrestag des Unglücks begehen. Doch Herholz platzierte den Termin bewusst etwas später, um in die Zukunft zu verweisen. Ziesmer muss viel zurückschauen, um ein bisschen nach vorn blicken zu dürfen. Er betrachtet das Ende seines ersten Lebens sachlich und distanziert.

Er hat die Mechanismen der Medienwelt verinnerlicht – mit Hilfe seines Beraters: „Ohne Unterstützung hätten sie mir schon im Krankenhaus die Bude eingerannt“, sagt Ziesmer. Also gibt er den Katastrophen-Berichterstatter. So zieht er Aufmerksamkeit auf sich, vor allem die des herzschmerzsüchtigen Boulevards, und gibt sie an jene weiter, denen er helfen möchte.

Er will ein globales Netzwerk von Geschädigten und Unterstützern knüpfen mit dem pathetischen Titel: „Allianz der Hoffnung“. Während der Pressekonferenz in Kienbaum wird er auf dem Podium von Gästen aus ganz Deutschland flankiert. Zum Beispiel von Herbert Tröscher, dem Gründer der Neuraxo Biotec GmbH in Düsseldorf. Das Unternehmen arbeitet an der Entwicklung eines Medikaments zur Behandlung von Querschnittsgelähmten. Noch fehlen 2,5 Millionen Euro Eigenkapital, um die ersehnte Marktreife zu forcieren. Jahrelang bemühte sich Tröscher um Investoren. „Diese Behandlung könnte tausenden Menschen helfen“, sagt er und ergänzt: „Sie würde den Wissenschaftsstandort Deutschland stärken und Arbeitsplätze schaffen.“ Klingt nach viel Verantwortung? Ronny Ziesmer will sie auf sich nehmen, dafür beantwortet er auch die dümmsten Fragen zehnmal pro Stunde. Er möchte Sensibilität für diese Branche schaffen. Ihm wird das leichter fallen als Marketingstrategen. Er spricht nicht von Aufbruch, er erwirkt ihn.

Besuche bei Kanzler Schröder und CDU-Politiker Schäuble hat er hinter sich. In Kienbaum nahm er an einem Workshop für Rollstuhlfahrer teil. Mit dem so genannten Handbike möchte er in ferner Zukunft an den Paralympics teilnehmen. Er hat seine eigene Wohnung in der Cottbuser Innenstadt bezogen, will demnächst ein umgebautes Auto steuern und im Herbst ein Studium der Biotechnologie in Senftenberg beginnen. Selbst die Gesundheitsministerin Brandenburgs, Dagmar Ziegler, ist in Kienbaum, bedankt sich artig für den Tatendrang des prominenten Patienten und berichtet von den Problemen ihres Ressorts. Eine solche Plattform wird ihr selten geboten. Ziesmer hat eine Minderheit ins Rampenlicht gerückt und ist zum Aufklärer für rund 170.000 Querschnittsgelähmte in Deutschland geworden. „Für unsere Zunft ist er ein Glücksfall“, sagt Heinrich Köberle, vierfacher Paralympics-Sieger in der Leichtathletik: „Er ist ein Kämpfer.“

Die Grenze zum Marketing ist nicht mehr weit. Ziesmer kann wenig dafür. Er will die Öffentlichkeit nicht meiden, denn er hat große Pläne. Die Konsequenz: mediales Mitleid. Darauf hätte Ziesmer schon Minuten nach seinem Sturz verzichten können. Als er vor zwei Jahren deutscher Mehrkampfmeister wurde, hatte kein Kameralicht sein Gesicht angestrahlt, die Meldungen in den Zeitungen hätte er nicht mal mit einer Lupe entdeckt. Nun hat er durch die Behinderung eine Bekanntheit erlangt, die ihm keine olympische Goldmedaille hätte bescheren können. Das Pressearchiv wächst, Artikel mit großen Buchstaben und Mitschnitte von Fernsehreportagen gehen täglich ein. Namhafte Entscheidungsträger bitten um seine Hilfe. Vor dem Unfall kannten sie nicht mal seinen Namen. Mit diesem Paradoxon hat Ziesmer sich arrangiert: „Es ist ein komisches Gefühl. Aber ich empfinde diese Termine als positiven Stress.“

Man möchte ihm das glauben. Doch wer ihn in der Sporthalle beobachtet, der sieht, dass ihm die Presseversorgung nicht nur Spaß bringt. Manchmal atmet er tief durch, hebt beide Augenbrauen, dann verschwindet das Lächeln für einen Moment. Andreas Hirsch, der Bundestrainer des Turner-Bundes, kann das nachvollziehen. Auch er muss viele Interviews geben. So viele Journalisten hatte er noch nie in der Halle. Er möchte nicht missverstanden werden, die Persönlichkeit Ziesmers hat sein Leben bereichert, doch er sagt auch: „Wir stehen hier nur im Hintergrund und werden begafft wie die Affen im Zoo.“ Die Leitfigur seiner Sportart ist dem Sport längst verloren gegangen. Das weiß er, das hat er akzeptiert. Verstanden hat er es nicht.