Hundert Jahre Bildsamkeit

Wo heute Brandenburgs Lehrpläne verfasst werden, befand sich zu DDR-Zeiten Margot Honeckers Kaderschmiede. Am Samstag blickt Ludwigsfelde auf seine Geschichte als Bildungsstandort zurück

VON UWE RADA

Ginge es ganz Brandenburg wie Ludwigsfelde, wäre die märkische Welt noch in Ordnung. Auf der Werkbank Brandenburgs drängeln sich nicht nur die Großen wie DaimlerChrysler, MTU oder Thyssen, sondern auch zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen, die die Stadt im Süden Berlins zur Boomtown des Landes machen. Oder, wie es die Zeit einmal formulierte, zur „Kraft, die Wohlstand schafft“.

Ludwigsfelde, das ist aber nicht nur Werk-, sondern auch Schulbank. Die müssen hier jene drücken, die im normalen Leben als Lehrer oder Schulleiter in der Prignitz oder der Uckermark arbeiten. Lehrerfortbildung heißt das dann, und die ist im Landesinstitut für Schule und Medien (Lisum) im Ortsteil Struveshof ebenso zu Hause wie die Arbeit an den Lehrplänen oder die Erwachsenenbildung. Am Samstag feiert der Struveshof seinen 100. Geburtstag als Bildungsstandort.

Angefangen hatte alles 1905, als das ehemalige Vorwerk vor den Toren Berlins nach Gerhard Struve benannt wurde, einem Landwirtschaftsspezialisten, der sich in seiner Freizeit um sozial gefährdete Jugendliche kümmerte. Struve war es auch, der die Berliner Waisenverwaltung davon überzeugen konnte, in Struveshof die ersten Fürsorgezöglinge unterzubringen. Ein Jahr später wurde der Grundstein für das „Landeserziehungsheim der Stadt Berlin“ gelegt. In den neun Jugendwohnheimen, dem Direktionsgebäude, dem Anstaltsschulhaus, dem Lehrhaus und zahlreichen Wirtschaftsgebäuden ist noch heute das Lisum untergebracht. Aus dem Zöglingserziehungsheim wurde, wenn man so will, ein Pädagogenerziehungsheim.

Für Jan Hofmann, den Direktor des Lisum, ist der Struveshof damit auch einer der wenigen Orte, in denen sich die deutsche Bildungspolitik wie in einem Brennglas spiegelt. „Hier gab es alles“, sagt Hofmann, „von der autoritären Erziehung im Kaiserreich bis zur Reformpädagogik der 20er-Jahre, von der Rekrutenausbildung unter den Nazis und dem kurzen liberalen Frühling nach 1945 bis zur Ausbildungs- und Lehranstalt der DDR in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren.“ Für Hofmann ist die wechselvolle Vergangenheit des Struveshof freilich keine Bürde, sondern Herausforderung, sich dieser Geschichte der Bildungspolitik zu stellen. Ganz so, wie es Marianne Birthler, die erste Nachwendebildungsministerin in Brandenburg, den Nachfolgern von Margot Honeckers Kaderschmiede auf den Weg gegeben hatte: „Setzen Sie sich offen und intensiv mit der Geschichte des Struveshof auseinander“, sagte die grüne Politikerin, die heute die Stasiunterlagenbehörde leitet.

Im Alltag zwischen den längst sanierten Gebäuden unter Kiefern, Eiben und wilden Pflaumen spielt die Geschichte freilich keine große Rolle. Es sei denn, es geht um jene, die in die Lehrpläne muss. Und da kann es schon auch mal schwierig werden. In die Schlagzeilen ist das Lisum Anfang 2005 geraten, als es den Völkermord an den Armeniern als einziges Beispiel für einen Genozid im Rahmenlehrplan für den Geschichtsunterricht ausmachte. Nach heftigen Protesten seitens der türkischen Botschaft in Berlin hatte Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) den Lehrplan zurückgezogen. Die Scharte ist ausgewetzt: In einer „Handreichung“ ist nun auch die Vernichtung der Hereros durch deutsche Kolonisatoren im heutigen Namibia sowie der Tutsi in Ruanda als Beispiel für Völkermord festgehalten. Die Beziehungen der Boomtown Ludwigsfelde und ihrer Bildungseinrichtung zu Ankara sind wieder auf einem guten Weg.

Bei der Feier am Samstag wird der Streit kein Thema mehr sein. Wenn um 14 Uhr die Geschichte des Struveshof zwischen zwei Buchdeckeln vorgestellt und anschließend Tag der offenen Tür gefeiert wird, darf ein anderes Bonmot allerdings nicht fehlen. Das stammt vom Ex-Bildungsminister Steffen Reiche (SPD). So schön nämlich empfand dieser die Idylle unter Eiben und wilden Pflaumen, dass er gerne auch von „Bad Struveshof“ sprach. „Eigentlich“, so Reiche, „dürften die Beschäftigen kein Gehalt kriegen, sondern müssten Kurtaxe zahlen.“