Gedemütigt, aber nicht mehr stumm

Brutalste Vergewaltigungen gehören zum Kriegsalltag im Osten des Kongo. Das Weiterleben danach ist eine Herausforderung: Zu der körperlichen und seelischen Zerstörung der Frauen kommt die gesellschaftliche Ächtung. Jetzt bieten Selbsthilfegruppen Auswege – für die Opfer und für die Täter

aus Goma MARIA G. BAIER-D’ORAZIO

Angèle wurde von Milizionären aus ihrem Dorf verschleppt. Eine Woche lang behielten die Kämpfer einer irregulären Mayi-Mayi-Miliz die Frau in ihren Lagern im Urwald. Reihum wurde Angèle von den Männern vergewaltigt. Als sie freigelassen wurde und zu ihrem Mann zurück nach Hause kam, verstieß dieser sie schon an der Tür: Eine beschmutzte Frau, die wolle er nicht mehr.

Angèle lebt heute allein. Ihr Leben, sagt sie, vermag sie nur noch mit Hilfe von Alkohol zu ertragen. Sie ist eine von zehntausenden Frauen im Osten der Demokratischen Republik Kongo, deren Zukunft durch die brutale sexuelle Gewalt im Krieg zerstört worden ist.

Seit über zehn Jahren wird der Osten des Kongo von kriegerischen Auseinandersetzungen heimgesucht. Seit über zehn Jahren werden dort Frauen von Soldaten und Milizionären bedroht, genötigt, vergewaltigt, verschleppt, in sexueller Sklaverei gefangen gehalten. Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen haben die Strukturen dieser Gewalt recherchiert und aufrüttelnde Berichte darüber veröffentlicht. Meist gipfeln ihre Schlussfolgerungen in der Forderung, die Täter vor Gericht zu stellen. Niemand zweifelt ernstlich daran, dass vergewaltigte Frauen die Täter bestraft sehen möchten. Doch für Kongolesinnen gibt es noch eine andere Realität.

Die Gesellschaft, die Familie, der eigene Ehemann – sie alle werden selbst zu Tätern, indem sie die Opfer aus der Gemeinschaft ausschließen und der Vergewaltigung erst Endgültigkeit verleihen. Solange sich das nicht ändert, verkehrt sich die strafrechtliche Verfolgung der Täter für die gepeinigten Frauen nur allzu leicht in ihr Gegenteil. Denn wenn das Bekanntwerden einer Vergewaltigung soziale Ächtung nach sich zieht, werden Frauen mit aller Kraft der Verzweiflung versuchen, das Erlebte geheim zu halten und darüber zu schweigen, auch wenn dies die Peiniger schützt.

„Frauen, die vergewaltigt wurden, reden nicht darüber, denn eine vergewaltigte Frau hat keinen Wert mehr in der Gesellschaft – vor allem dann nicht, wenn sie von einem Soldaten vergewaltigt wurde“, bestätigt Professorin Honorine Ntahobavuka, Projektverantwortliche von Fomasi (Forum für die Stumme Masse), einer Frauenorganisation im ostkongolesischen Kisangani, die aus der Zusammenarbeit der katholischen Kirche mit der Universität von Kisangani, insbesondere der Fakultät für Psychologie, entstand. Honorine Ntahobavuka lehrt an dieser Fakultät.

Alle sechzig Frauen, die heute Fomasi angehören, haben Gewalt am eigenen Leib erlebt. Die Organisation wurde von Frauen der katholischen Kirchengemeinde gegründet, nachdem im Jahr 1992 eine Frau aus ihrer Mitte vor den Augen des gefesselten Ehemannes von Aufständischen vergewaltigt wurde. Die Frau war gerade schwanger. Der Schock, den sie dabei erlitt, war so schwer, dass sie zwei Wochen später starb.

1996 und erneut 1998 brachen im Ostkongo generalisierte Kriege aus, unter Beteiligung der Nachbarländer und begleitet von der Ausbreitung unzähliger irregulärer Milizen. „Die Frauen konnten nicht mehr zur Feldarbeit gehen, ohne Angst haben zu müssen, überfallen zu werden“, erinnert sich Honorine Ntahobavuka. „Die Militärs errichteten überall Barrikaden, verlangten von den Frauen Wegezoll. Wenn sie nicht bezahlen konnten, wurden sie vergewaltigt. Viele Frauen wurden entführt oder getötet. Nach 2000 haben wir die Opfer registriert, haben Kleidung für sie gesammelt und es haben 150 Freiwillige unserer Fakultät psychosozialen Beistand geleistet. Nach und nach haben die Frauen sich diesen Helfern anvertraut und ihnen von den erlittenen Vergewaltigungen erzählt.“

Die meisten Vergewaltigungen von Kongolesinnen verüben nach Untersuchungen die ruandischen Hutu-Milizionäre, genannt „Interahamwe“, die nach dem von ihnen mit verübten Völkermord 1994 nach Kongo flohen. Sie sind bis heute im Ostkongo als irreguläre Armee stationiert und bilden einen Staat im Staate.

„Die Interahamwe berauben uns, wenn wir ins Landesinnere fahren, um Fisch zu holen“, erzählt Cécile, die Frau eines arbeitslos gewordenen Staatsbediensteten in der Stadt Goma, die ihre Familie durch Fischhandel ernährt. „Der Lastwagen wird durch Schüsse gestoppt, dann erscheinen die Milizionäre mit Macheten und Gewehren. Sie tasten uns ab, um zu sehen, wo das Geld versteckt ist, manchmal müssen wir auch alles ausziehen, und sie nehmen einfach die Kleidung mit. Wir müssen dann in Unterwäsche ins nächste Dorf laufen. Es gibt Fälle, in denen sich Einzelne eisern weigern, ihr Geld herzugeben – selbst wenn sie eins mit der Machete überkriegen. Meist sind das Frauen. So gelingt es ihnen manchmal, ihr Geld zu retten. Vor kurzem wurde bei so einem Überfall eine Frau getötet, sie hinterlässt ein Baby von sechs Monaten. Aber was sollen wir tun, wir haben keine Wahl.“

Eine in Goma durchgeführte Untersuchung zu Handwerk und Gewerbe belegte, wie gefährlich in Kriegszeiten der Handel mit dem Hinterland ist, wo bewaffnete Milizen und marodierende Soldaten ungehindert ihr Unwesen treiben. Gerade im Krieg werden Frauen noch stärker als sonst gezwungen, sich wirtschaftlichen Tätigkeiten zu widmen, die Gefahr für Leib und Leben bedeuten. Während der arbeitslose Ehemann nur allzu oft seinem Schreibtisch und seiner Stellung nachtrauert, ohne alternative Erwerbsquellen in Erwägung zu ziehen, kann die Frau nicht untätig zu Hause sitzen: Sie muss, um ihrer Kinder willen, die Familie am Leben erhalten. Wird die Frau dadurch aufgehalten und kommt spät nach Hause, wird ihr Mann nicht selten laut, beschimpft sie, weil sie ihm das Essen nicht rechtzeitig serviert, oder wird gewalttätig. Die Frau riskiert ihr Leben, um die Familie zu ernähren, und für das Risiko wird sie auch noch bestraft.

Vergewaltigung, das gab es früher in dieser Form nicht bei uns“, sagt Vital Mukuza. „Es kam mit den Soldaten, mit dem Krieg.“ Mukuza ist Direktor von Capa, einem beruflichen Ausbildungszentrum in Bukavu, das der baptistischen Kirche Zentralafrikas gehört und vom deutschen Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) finanziert wird. Als er erfuhr, was Frauen im Umland von Bukavu passiert, wollte er es zuerst nicht glauben. Er machte sich auf, nach Frauen zu suchen, die ihre Geschichten erzählen. Er besuchte fünf Dörfer in Südkivu. In jedem Dorf fand er Opfer.

Die formlose, flexible Ausbildung an dieser Schule ist für viele Mädchen und Frauen die letzte Rettung. „Die meisten Fälle von Vergewaltigung geschehen auf den Dörfern, da dort die Menschen dem Zugriff der Milizen wehrlos ausgeliefert sind“, sagt er. „Wenn junge Mädchen vergewaltigt wurden, schicken ihre Familien sie oft weit weg in die Stadt, wo niemand sie kennt. Dort allerdings sind sie auf sich gestellt und müssen sich durchschlagen. So kommen sie zu uns, um einen Beruf zu erlernen.“ Capa beherbergt unter einem Dach Täter und Opfer, denn hier im Berufsbildungszentrum werden auch junge Exmilizionäre beruflich ausgebildet, die desertiert sind oder ihre Waffen abgegeben haben.

Man erkennt die jungen Milizionäre sofort: leger getragene Sportschuhe, ein durchtrainierter Körper, der Blick misstrauisch, eine Haltung, die sich Respekt ertrotzt. Doch ihr Blick ist unstet, weicht dem Gesprächspartner immer wieder aus. Unsicherheit liegt darin und Angst. Die Angst, von der Vergangenheit eingeholt zu werden. Das Gespenst der Erinnerung hat auch die Täter zu Opfern gemacht. „Als ich zu den Mayi-Mayi-Milizen kam, war ich fünfundzwanzig Jahre alt“, erzählt einer. „Was mich damals hauptsächlich interessierte, waren das Geld, die Drogen und die Frauen, die man mit Gewalt nehmen konnte. Ich habe gesehen, wie man tausende von ruandischen Soldaten getötet hat. Ich habe auch mitgemacht. Ich habe auch viele Frauen vergewaltigt. Wir waren oft wie benebelt von den Drogen: Jemand töten, das bedeutete nichts. Ich war Kommandant, hatte eine Stellung mit vielen Privilegien. Aber es gab auch rangniedrige Soldaten, die nichts hatten, die wenig zu essen bekamen, die im Freien schlafen mussten. Das Einzige, was sie durften, war Frauen vergewaltigen. Heute quält mich immer wieder die Frage, ob mir irgend jemand all das verzeihen kann, was ich getan habe. Nachts kommen die Bilder wieder, von den Menschen, die ich getötet habe, von den Frauen, die ich vergewaltigt habe. Ich versuche, ihnen zu entkommen, stelle das Radio ganz laut, laufe zu Freunden oder greife zur Bibel, denn man hat mir gesagt, Gott könne das alles verzeihen, was ich getan habe. Ich weiß es nicht, ob Gott das wirklich kann.“

Berufliche Ausbildung und psychologische Betreuung für Täter wie Opfer? Was auf den ersten Blick paradox erscheint, findet in der Realität rasch seine Begründung. Die meisten der Vergewaltigungen gehen heute auf das Konto marodierender Soldaten oder versprengter Milizionäre, die ihre Waffen noch nicht niedergelegt haben. Die Bedrohung der Frauen kann somit nur dann ein Ende finden, wenn die Kämpfer ihre Waffen ablegen und in die Gesellschaft zurückkehren. Das aber ist ohne eine Perspektive für die Männer kaum attraktiv. Sie brauchen genauso eine Zukunft wie die Frauen.

Kämpfen im Ostkongo bedeutet nicht nur, den Feind zu erschießen. Milizionäre wurden von ihren Befehlshabern zu Grausamkeiten gezwungen, die man in ihrem Ausmaß an Barbarei nur aus dem Genozid in Ruanda oder aus den Zeiten von Pol Pot in Kambodscha kennt. Noch mehr als durch Gewalttaten starben Menschen daran, dass das Wüten der Milizen sämtliche sozialen Strukturen zusammenbrechen ließ und Hunger, Seuchen und Vertreibung das Überleben unmöglich machten. Das US-Hilfswerk International Rescue Committee (IRC) schätzt die Zahl der Kriegsopfer im Ostkongo auf 3,3 Millionen, davon seien allerdings nur zehn Prozent Opfer direkter Kampfhandlungen geworden.

Dieses Jahr hat im Kongo ein groß angelegtes Programm zur Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration ehemaliger Soldaten und Milizionäre begonnen. Im Schnelldurchlauf sollen sie ihre Waffen abliefern, innerhalb von maximal fünf Tagen erklären, welchen Beruf sie erlernen oder welche Tätigkeit sie finanziert haben möchten, dann erhalten sie eine finanzielle Unterstützung zur Reintegration. Dieses Programm wird von der staatlichen Kommission Conader (Nationale Kommission für Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration) durchgeführt.

Die Hauptarbeit aber bleibt an Regionalorganisationen hängen, die vor der schwierigen Aufgabe stehen, die Exsoldaten bei der Reintegration im Alltag zu unterstützen. Als im Januar ein Conader-Verantwortlicher während einer von Capa organisierten Tagung in Bukavu das Programm zur Demobilisierung vorstellte, fiel das Wort „Trauma“ kein einziges Mal. „Wenn Soldaten im Krieg den Feind töten, tun sie nur ihre Pflicht“, bemerkte er.

Das Programm soll offiziell auch Frauen, die in der Armee dienten oder sich mit Kämpfern zusammentaten, die gleiche Unterstützung zur Reintegration zukommen lassen. Dem Vertreter von Conader war dieses Thema nur einen Satz wert: „Frauen werden ihren Familien übergeben.“ Doch viele Familien denken über eine Frau, die mit Soldaten gelebt hat, das Gleiche wie der Ehemann von Angèle: Eine solche Frau ist verdorben, zu nichts mehr zu gebrauchen.

Warum aber sind im Kongo überhaupt Frauen und Mädchen mit den Männern in den Krieg gezogen? Die junge Kongolesin Vanessa berichtet dazu in dem Buch „Young Soldiers – Why They Choose to Fight“ von Rachel Brett und Irma Specht (International Labour Organization, 2004): „Sie kommen in die Dörfer und vergewaltigen Mädchen, Kinder, Mütter, selbst Großmütter. Sie nehmen dich mit und vergewaltigen dich wieder, oder sie bringen dich um. Wenn du also weißt, was Männer tun, ziehst du mit ihnen in den Krieg, so hast du eine Waffe und kannst dich schützen.“

Frauen wie Vanessa können sich vor Vergewaltigung schützen, doch sie können sich nicht schützen vor dem gesellschaftlichen Tod. Denn Frauen, die mit Soldaten zu tun hatten, können im Kongo kein normales Leben mehr führen, ganz gleich ob sie es freiwillig getan haben oder unter Zwang.

Fomasi hat ein Plakat malen lassen, auf dem die verschiedenen Formen der Gewalt gegen Frauen illustriert sind. Darauf ist auch ein Blauhelm zu sehen. Sophie Ndeke, die Vizekoordinatorin von Fomasi, berichtet, dass Mädchen und junge Frauen von den UN-Truppen missbraucht werden: „Sie entführen die Mädchen nicht mit Gewalt, aber das Endergebnis ist dasselbe. UN-Soldaten locken Mädchen unter einem falschen Vorwand in die Kaserne, sie benutzen dazu kleine Jungen als Kuriere. Diese sagen einer jungen Frau, der Herr Soundso möchte dich gern sehen. Wenn sie dann kommt, hält man sie dort fest, und sie wird von mehreren vergewaltigt. Wir haben eine Reihe solcher Fälle, aber sie sind schwer zu beweisen, da die Soldaten sehr geschickt vorgehen und falsche Namen angeben, um nicht identifiziert werden zu können. Die Soldaten der UN sind 1999 im Rahmen einer Friedensmission zu uns gekommen, aber heute benehmen sie sich Frauen gegenüber oft genauso wie unsere eigenen Militärs.“

UN-Soldaten wissen selbstverständlich, dass sie wegen Vergewaltigung bestraft werden können, und dieses Jahr sind tatsächlich zahlreiche interne Untersuchungen in der UN-Mission im Kongo (Monuc) geführt worden – inzwischen gilt für die Monuc ein generelles Verbot, intimen Verkehr mit Einheimischen einzugehen. Doch dies hindert die Blauhelme nicht daran, es trotzdem zu tun. Sie bauen darauf, nicht gefasst zu werden.

Den Frauen, die sich durch Vergewaltigung und Verstoßung akut in großer Not befinden, können nur Menschen helfen, die sensibel genug sind, seelische Nöte zu erkennen, und die den Mut haben, sich im gesellschaftlichen Verbund auf die Seite der Geächteten zu schlagen. Sophie wurde ähnlich wie Angèle von Milizionären verschleppt und vom Ehemann verstoßen. Auch in ihrem Fall billigte die Dorfgemeinschaft das Verhalten des Mannes, niemand half ihr. Ein paar gute Seelen der Kirchengemeinde bemerkten, dass Sophies innere Not immer größer wurde. Sie konnten verhindern, dass Sophie sich im See ertränkte. In der Kirchengemeinde fand Sophie eine Ersatzgemeinschaft. Sie half ihr dabei, in eine andere Stadt zu ziehen, wo niemand sie kennt. Mit viel Glück hat Sophie dort ein neues Leben beginnen können – wenn es ihr auch kaum gelingen wird, das alte zu vergessen.

MARIA G. BAIER-D’ORAZIO, freie Autorin und Beraterin in der Entwicklungszusammenarbeit, besucht seit 1995 im Rahmen von Beratungsaufträgen des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) in regelmäßigen Abständen den Osten des Kongo. Die Interviews mit Fomasi entstanden im Dezember 2004. Die Untersuchung zu Handwerk und Gewerbe wurde vom EED in Goma durchgeführt und unter dem Titel „Was der Krieg uns lehrte“ veröffentlicht. Sie kann unter www.eed.de heruntergeladen werden