Helden ohne Macht

In Alexandra Sells Dokumentarfilm „Durchfahrtsland“ sieht man dem Leben in der Provinz beim Scheitern zu

„Durchfahrtsland“ von Alexandra Sell erzählt von einer seltsamen Welt, der Normalität wohl, der Provinz, zwei Dörfern im „Vorgebirge“, einer Gegend nahe Köln, hinter der aber gar kein Gebirge steht. Dort gibt es diese häufigen Eigenheimsiedlungen, die weder Stadt noch Land sind, gesichtslos und austauschbar scheinen. Nur Nachts leuchten die Ölraffinerien am Rhein melancholisch und blaustichig. Es ist eine reizarme Landschaft, an der man vorbeifährt. Die meisten, die hier wohnen, wenn auch nicht mehr arbeiten, leben schon immer hier. Sie sind durch vielerlei Vereine und die katholische Kirche verbunden und aufgehoben. Seit Menschengedenken sind die beiden Käffer, von denen die Hamburger Filmemacherin erzählt, zwar miteinander verfeindet – man weiß nur nicht mehr recht, warum. Dass die Ortschaften ineinander übergehen, stört die Feindschaft nicht.

Sell porträtiert vier Menschen aus dieser Gegend, die allesamt etwas mehr oder weniger Aussenseiterisches haben. Da ist der schmächtige Mark Basinsky, ein junger Mann mit künstlerischen Neigungen, der bei den Männlichkeitsriten im Junggesellenverein nicht recht mithalten kann, davon träumt, einmal Modedesign in Mailand zu studieren und die Schaufenster von diesem oder jenem Geschäft dekoriert; die Autorin Sophia Rey, Mitte fünfzig vielleicht, deren im Selbstverlag erschienene Krimis mit Titeln wie „Kiffer, Klunker, Kaffeetanten“ allesamt in der Region spielen; Giuseppe Scoaro, ein Mitte zwanzigjähriger, leicht übergewichtiger Vorsitzender des örtlichen Spielmannszugs, der verzweifelt versucht, seine soziale Stellung zwischen Musik und Bundeswehr zu behaupten; und Hans Wilhelm Dümmer, der zugezogene Priester, ein ernster Mann, der für beide Gemeinden zuständig ist und sich bemüht, zwischen ihnen zu vermitteln.

Die Filmemacherin begleitet ihre Helden ein Jahr lang. Sie filmt Sitzungen des Junggesellenvereins, Gottesdienste, Karnevalsveranstaltungen, begleitet Gemeindemitglieder auf einer Fahrt in einen befreundeten Ort in der Lausitz, ist dabei, wenn sie auf eine Wallfahrt nach Spanien reisen und bemüht sich erfolgreich im Sinne der Zuschauerunterhaltung um einen angenehm rhythmischen Wechsel zwischen Interviews, Erzählung und O-Ton-Bildern.

Manches erscheint gruselig, wenn die feisten Junggesellen etwa Trinklieder singen, den Junggesellinnen aus der Gegend Maibäume vor ihre Häuser stellen – die Maikönigin bekommt den schönsten und die, die sie nicht mögen, bekommen mit Klopapier behängte Krüppeltannen. Die Krimiautorin erzählt von Lesungen, zu denen aus Gründen provinzieller Missgunst überhaupt niemand kam; man sieht diese dicken Autos und diese engen Wohnungen und wie überangepasst der deutsche Italiener Giuseppe Scoaro ist. Und manchmal hat man das Gefühl, die Regisseurin stelle sich in ihrem schön durchkomponierten, durchlaufenden Text aus der Position des allwissenden, unbeteiligten Erzählers, mit ihrem mal mehr ironischen, mal mehr märchenhaften Erzählertonfall über ihre Helden, die so zum Unterhaltungsmaterial ihres Films werden, und man weiß, dass sie es nicht täte, wenn ihre Protagonisten mächtiger wären.

Deshalb handeln Dokumentarfilme am liebsten von Menschen mit geringer gesellschaftlicher Macht. Aber das lässt sich wohl nicht vermeiden, solange man nicht versucht, steng wirklichkeitsgetreu und aus der Position teilnehmender Ethnologen zu drehen. DETLEF KUHLBRODT