Die Korrekturen und mehr

Ein Panorama des Schreckens im pakistanischen Arbeitermilieu von Leeds: Nadeem Aslams „Atlas für verschollene Liebende“

von KATHARINA GRANZIN

Von außen betrachtet ist diese Welt noch heil. Hinter der Fassade aber, die man der Nachbarn und der Selbstachtung wegen sorgsam pflegt, gähnen Abgründe der Verzweiflung. Die Familie, die einst in diesem Haus lebte, hat sich längst aufgelöst. Zurückgeblieben ist ein altes Ehepaar, das im besten Falle nebeneinander her lebt, vereint höchstens in der Enttäuschung über die gemeinsamen Kinder. Die Ehe des ältesten Sohns, bisher der einzige, der für Enkel gesorgt hat, ist gescheitert. Die Tochter, schon lange geschieden, widmet sich nur der beruflichen Karriere und ruft selten an. Der jüngste Sohn lässt zur Verzweiflung der liebenden Mutter überhaupt nie von sich hören. Irgendwann treffen sich doch alle zu einer missglückten Familienfeier. Am Ende des Buchs ist der Vater tot.

Das ist es, in groben Zügen, was in Jonathan Franzens Roman „Die Korrekturen“ passiert. Die handelnden Personen heißen Enid und Alfred, Gary, Denise und Chip. Nennt man sie stattdessen Kaukab und Shamar, Charag, Mah-Jabin und Ujala, so wird daraus das Grundsujet von „Atlas für verschollene Liebende“, dem zweiten Roman des britisch-pakistanischen Autors Nadeem Aslam. Auch Aslams Roman rechnet mit dem erstickenden Leben in der Provinz ab. Auch er erzählt vom Zerfall einer Familie. Doch im Vergleich scheint Franzens Familiensaga vor allem von einer großen intellektuellen Abgeklärtheit durchdrungen, während es bei Aslam spürbar ums Ganze geht. Ein verzweifelter, wütender Grundton durchzieht den Roman, den man während der Lektüre beständig im Ohr zu haben glaubt.

Der Boom des Familienromans ist, was die Literatur Südasiens und seiner Diaspora betrifft, kein neues Phänomen. Nadeem Aslam, 1967 geboren und mit vierzehn Jahren aus Pakistan nach England gekommen, scheint auf den ersten Blick fest in dieser literarischen Tradition verwurzelt. Doch Aslams Buch ist etwas Besonderes in seiner konsequenten Polyphonie – und darin Franzens Roman wieder sehr nahe. Er nimmt nicht den üblichen, sicheren Weg einer einzigen Erzählperspektive –die des Individuums, das sich gegen die Tradition zu stellen wagt und mit dem die Identifikation leicht fällt –, sondern traut sich, viele disparate Stimmen nebeneinander zum Sprechen zu bringen, darunter die der Tradition selbst.

Ein pakistanisches Ghetto in kleinen englischen Häuschen zwischen grünen Hügeln. Shamar ist Sozialarbeiter mit Hang zum Freigeistigen, seine Frau Kaukab Tochter eines islamischen Geistlichen mit Hang zum frömmlerischen Fundamentalismus. Kaukab leidet darunter, keine richtige Familie mehr zu haben, ohne vor sich selbst zugeben zu können, dass ihre abergläubische Religiosität die Kinder von ihr fortgetrieben hat. Eine Tragödie belastet die Familie zusätzlich: Ein Liebespaar ist verschwunden – Shamars jüngerer Bruder und dessen Freundin, die Tochter des örtlichen Lebensmittelhändlers. Das Paar, das unverheiratet zusammenlebte, hatte Morddrohungen erhalten. Die Brüder der jungen Frau werden unter dringendem Tatverdacht verhaftet.

Aslam bemüht sich nur halbherzig, aus dem Verschwinden der Liebenden ein Suspense-Motiv zu machen; vielmehr gibt der drastische Fall eines „Ehrenmordes“ den Rahmen ab, um den sozialen Kontext darzustellen, in dem solche Taten geschehen können. Das gelingt sehr eindrücklich, wenngleich mitunter recht plakativ. Aslam zeigt eine klaustrophobisch enge Welt, in der falsch und richtig unumstößlich feststehen und geringe Abweichungen von der Norm lebensgefährlich sein können. Natürlich gilt das in erster Linie für die Frauen.

Nadeem Aslam kennt die Welt, von der er schreibt, denn die Kleinstadt, in der er lebt, diente als Vorlage für seinen Roman. Sie liegt in der Nähe von Leeds, der Stadt, aus der drei der vier Selbstmordattentäter von London kamen. Doch was Aslam für den Familienroman, der sein Buch eigentlich ist, gelingt, glückt ihm nicht in gleicher Weise dort, wo die Perspektive sich auf den sozialen Kontext ausweitet. Aus den widerstreitenden Stimmen von Kaukab, Shamar, ihren Kindern und anderen Figuren entsteht ein komplexes, irritierendes Bild eines Milieus im Umbruch. Das hätte schon gereicht.

Doch der Autor kann der Versuchung nicht widerstehen, seine Story überreichlich mit Fakten, Anekdoten und Nebenfiguren zu unterfüttern, die sämtlich dem Ziel zu dienen scheinen, die Rückständigkeit und Frauenfeindlichkeit des pakistanischen Arbeitermilieus in England möglichst detailreich zu illustrieren. So entsteht ein Panorama des Schreckens, mit dem das differenzierte Bild, das der Familien-Mikrokosmos entwirft, seltsam konterkariert wird. Andererseits ist es gerade dieser wütende Furor, der den Roman, trotz einer oft etwas überambitionierten Sprache, zu einer fesselnden Lektüre macht. Hier steht ein Autor erkennbar mit seiner ganzen Überzeugung hinter seinem Roman und schreit sein „J’accuse!“ in die Welt hinaus.

Mit diesem Buch scheint Nadeem Aslam sich ausdrücklich zum überholt geglaubten Konzept der engagierten Literatur bekennen zu wollen – eine Vorliebe übrigens, die er auch einer seiner Hauptfiguren, dem verhinderten Literaten Shamar, verleiht. Ungelöst wie eh und je bleibt jedoch die Frage, was die Funktion einer solchen engagierten Literatur sein kann und ob es nicht eher die Figur des engagierten Literaten selbst ist, die öffentliche Wirkung entfaltet. Dass Nadeem Aslam nach den Londoner Anschlägen häufig im Fernsehen zu sehen war – als Stimme und Gesicht für ein anderes, aufgeklärtes und prowestliches pakistanisches Intellektuellen-Milieu –, war sicherlich gut, da es mäßigend wirken musste auf alle, die schon immer einen Hass auf „die Pakis“ hatten. Die Lektüre seines Romans aber könnte, nimmt man ihn nur ernst genug, unter Umständen das genaue Gegenteil bewirken. Er lehrt uns das Schaudern.

Nadeem Aslam: „Atlas für verschollene Liebende“. Deutsch von Rosetta Stein. Rowohlt, Reinbek 2005, 540 Seiten, 22,90 Euro