AUCH OHNE KLARE KOALITION: DIE WÄHLER HABEN SICH ENTSCHIEDEN
: Gegen den Neoliberalismus

An launigen Sprüchen fehlt es nicht, wenn es die Wahl zu interpretieren gilt. Sehr beliebt bei Kommentatoren: „Der Wähler hat entschieden, aber was wollte er bloß sagen?“ Diese Zusammenfassung ist allerdings falsch. Die nächste Koalition ist zwar noch offen, dennoch haben die Bürger eine eindeutige Botschaft ausgesandt: Die neoliberale Idee wurde mit klarer Mehrheit abgewählt. Das bestätigen auch die Umfragen. Bei etwa zwei Dritteln der Bürger fiel stets das gleiche Stichwort, wenn sie ihre Wahl begründen sollten. Es hieß soziale Gerechtigkeit.

Das angelsächsische Modell kommt bei den meisten Wählern hierzulande nicht an. Sie wollen keine gewerkschaftsfreien Zonen ohne Kündigungsschutz; sie lehnen eine Einheitssteuer genauso ab wie eine Gesundheitsprämie. Dieses Votum werden sich alle Parteien merken. Sogar die CDU und die Liberalen. Schwarz-Gelb hat sich nämlich auch bisher sehr lernfähig gezeigt, wenn Programmpunkte allzu deutlich floppten. So fiel in diesem Wahlkampf auf, dass eine nahe liegende Forderung überhaupt nicht vorkam: An der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde auch bei der Union nicht gerüttelt – obwohl die Unternehmer dies laut verlangt haben. Doch das Wahldrama von 1998 ist bei der CDU unvergessen. Kanzler Kohl schnitt damals fast so schlecht ab wie Angela Merkel. Ein Grund dafür war seine Kürzung der Lohnfortzahlung.

Aber auch das nicht-neoliberale Lager wird lernen müssen. Diesen Wahlkampf führte es nach dem schlichten Motto: „Bei den anderen wird es noch schlimmer.“ Nicht Rot-Grün regierte – sondern der angebliche Sachzwang. Doch die Wähler honorieren es nicht, wenn Parteien nur noch seufzen und ihre einstigen Visionen durch Fantasielosigkeit ersetzen. Wenn Deutschland neue Ideen sucht, dann gern jenseits der Grenze. Bisher waren angelsächsische Beispiele sehr beliebt. Doch da sie beim Wähler keine Mehrheit finden, fragt sich nun, wie schnell die Volksparteien Skandinavien entdecken. Dort sorgen hohe Steuern für hohe Beschäftigung. Es wäre originell, wenn ausgerechnet die CDU als Erste diesen Zusammenhang erkennen würde. ULRIKE HERRMANN