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: „Rachida“ von Yamina Bachir Chouikh / Unverschleiert auf der Flucht

In der ersten Einstellung des Films sieht man, wie eine Frau Lippenstift aufträgt, ihre schönen, wildgelockten Haare kämmt und dann auf die Straße geht. Aber was für Millionen Frauen in aller Welt ein alltägliches Ritual ist, über das kein Wort und erst recht keine für die Stimmung des restlichen Films so bestimmende Anfangssequenz verloren werden braucht, ist für Rachida ein gefährlicher Akt der Rebellion. Denn diese urbane und moderne Frau arbeitete als Lehrerin im Algerien der späten 90er Jahre, das von fundamentalistischen Gruppen so terrorisiert wurde, dass die zivile Ordnung zum Teil zusammenbrach. Ein paar Minuten folgt die Kamera Rachida auf ihrem Weg zur Schule durch das sonnige, auf den ersten Blick idyllisch wirkende Algier, dann lernen wir ihre Mutter, ihren Verlobten und ihre Nachbarn kennen und spüren, dass sie ein bescheiden, glückliches Leben führt. Aber schon bei ihrem ersten Gang durch die alten Stadtviertel der Hauptstadt waren ihr ein paar junge Männer gefolgt, und am nächsten Tag überfallen diese sie auf offener Straße und versuchen sie mit gezogenen Waffen dazu zu zwingen, eine Bombe in ihre Schule zu schmuggeln. Rachida erkennt unter den Angreifern einen ihrer früheren Schüler, wehrt sich und wird niedergeschossen. Sie überlebt zwar schwer verletzt, flieht aber nach ihrer Genesung aus Algier, weil sie die Rache der Terroristen fürchtet.

„Ich bin im Exil im eigenen Land!“ ist ihr bitteres Resümee, nachdem sie feststellen muss, das auch das abgelegenen kleinen Dorf, in das sie zusammen mit ihrer Mutter zu Verwandten gezogen ist, von einer Bande religiöser Fanatikern terrorisiert wird. Dies bleibt der einzige Satz, mit dem Rachida die Verhältnisse kommentiert oder analysiert. Und so ist er schon fast ein Stilbruch, denn die Regisseurin Yamina Bachir Chouikh will in ihrem Debütfilm den Terrorismus nicht erklären, sondern so genau und einfühlsam wie möglich zeigen, wie er das Leben der Menschen verändert und zerstört. Darum bleibt die Kamera immer nah bei seiner Protagonistin und zeigt fast dokumentarisch, wie sie und die Menschen um sie herum mit der ständig lauernden Gefahr umgehen. Dabei zeigt die Filmemacherin ein bemerkenswertes Gefühl für Details: Wenn etwa Rachida nach dem Anschlag auf sie im Krankenhaus erwacht, dürfen ihre Angehörigen sie nur einzeln besuchen. Nicht, damit die Patientin nicht überanstrengt wird, sondern weil es nur einen einzigen Schutzkittel gibt, den die Besucher aneinander weiterreichen müssen.

Auch das dörfliche Leben wird mit einem sehr einfühlsamen Blick auf Nuancen gezeichnet. In kurzen, präzisen Milieustudien lernt man so die Freunde, Bekannte und Kollegen von Rachida kennen. Ein kleines Mädchen träumt davon, eines Tages auf den Mond zu fliegen. Der temperamentvolle Hassan ist in heiße Liebe entbrannt, doch seine Angebetete ist schon einem anderen versprochen, und ihr Vater droht den unerwünschten Liebhaber zu verprügeln. Mit solchen poetischen und komischen Episoden bringt die Filmemacherin uns die Menschen des Dorfes nahe. Sie will hier nicht etwa durchgängig eine Tragödie erzählen, und Rachida hat bei all ihrer Angst auch Momente der Ruhe, wenn sie sich etwa mit der Musik aus ihrem Walkman einen inneren Schutzraum schafft. Und der Film feiert die Solidarität der Frauen, die im öffentlichen Bad miteinander tratschen und schließlich eine große Hochzeit vorbereiten. Aber das Unheil ist immer präsent. Ganz lakonisch wird etwa gezeigt, wie Rachida gerade noch einer Straßensperre entkommt, bei der willkürlich Menschen aus ihren Autos gezehrt und erschossen werden. Und ein junges Mädchen, das den Terroristen entkommen ist und in zerrissenen Kleidern ins Dorf zurückrennt, wird von ihrem Vater verstoßen, weil sie vergewaltigt wurde. Solche Konflikte spitzt der Film nie melodramatisch zu, er zeigt auch nie die Gewalt selber. Wie jene, die geflüchtet sind und sich versteckt haben, hört man nur die Schüsse und sieht hinterher die toten Körper. Gerade dadurch, das er nicht emotional überwältigen will, sondern statt dessen genau beschreibt, ist „Rachida“ ein sehr bewegender Film geworden. 2003 wurde er beim unabhängigen Filmfest Osnabrückmit dem Friedensfilmpreis ausgezeichnet. Im Kino 46 ist er in einer Reihe von insgesamt sieben Filmen zum Thema „Unverschleiert - Frauen in islamischen Gesellschaften“ zu sehen.

Wilfried Hippen