Sein oder nicht sein? Ich bin, also bin ich!

Stephan Wackwitz’ Bildungsroman „Neue Menschen“ handelt von den vielen missglückten Versuchen einer Neuerschaffung der Spezies Mensch. Und den wenigen geglückten Ausnahmen

VON STEPHAN WACKWITZ

Der Autor berichtet in seinem „Bildungsroman“ von den Ideologien und Verblendungen, die seinem Vater während der Nazizeit und ihm selbst während seines Studiums in den Siebzigerjahren „die frühen Mannesjahre versauten“: Er verfolgt die Spuren des „neuen Menschen“ reinen Ursprungs. Ein Horrortrip durch die deutsche (Geistes-)Geschichte. Im Gegenzug erzählt er von Beispielen positiver Selbsterschafftung, unter anderem der homosexuellen Selbstrettung in die Welt von Kunst und Kultur. Wackwitz’ Vater hatte in kanadischer Kriegsgefangenschaft den schwulen Berliner Kunsthistoriker Christian Adolf Isermeyer kennen gelernt und in ihm einen Lehrer gefunden; sein Sohn entdeckte nach Recherche Isermeyer als Prototyp des modernen, postideologischen Menschen.

Die Lebenskunst, die die Schwulen sich in ihrem Emanzipationsprozess – instinktiv oder notgedrungen – angelegen sein ließen, scheint bei den Juden des 18. Jahrhunderts in die Lehre gegangen zu sein. Die Schwulen sind die Juden der body politics. Sie verkörpern erotische Modernisierung. Schwule Lebenskunst ist immer davon ausgegangen, dass es keine reinen Ursprünge gibt. Stattdessen versucht diese Kunst (diese Weisheit), Probleme und Identitäten so zu formulieren und zu formatieren, dass man heil durchkommt und ungefähr glücklich wird dabei.

Und so ist mir während der Erforschung Christian Adolf Isermeyers, der von 1943 bis zum Ende des Kriegs in Kananaskis nun der Lehrer meines Vaters werden sollte, nichts so denkwürdig (und schließlich zu einer Art innerem Besitz) geworden wie zwei Bilder von ihm, auf denen er die Rolle des durch die Stimmen der Ahnenwelt und ihre absoluten Forderungen verstörten Dänenprinzen Hamlet parodiert und so ausgerechnet die literarische Figur verkaspert, deren Geschichte mir immer als das vollkommene Porträt der politischen Irrungen meiner eigenen Generation um 1968 erschienen ist.

Die erste der beiden Isermeyer-Hamlet-Karikaturen findet sich in den hektografierten Seiten der Klatsche, einer Abiturientenzeitung aus dem Internierungslager Monteith (in Kanada; Anmerkung der Red.). Er und mein Vater waren bald nach ihrer ersten Begegnung dorthin verlegt worden. Die gutmütig an ihren gefangenen Feinden desinteressierten Wachmannschaften hatten Isermeyer erlaubt, einen richtigen kleinen Abiturvorbereitungskurs hinter Stacheldraht aufzuziehen.

Nach der Rückkehr meines Vaters ins zerstörte Deutschland wurde seine Abschlussprüfung behördlicherseits auch wirklich als reguläre Hochschulzugangsberechtigung anerkannt. Wir wollen unserem wohlverdienten Leiter der Oberschule ein Denkmal setzen, doch wissen wir nicht, wen wir mehr bewundern sollen, den Jünger Thalias oder den Professor für Kunst- und Literaturgeschichte, schrieben mein Pfadfinder-Vater und fünfundzwanzig aus ähnlichen HJ- oder Wehrmachtszusammenhängen nach Kananaskis und Monteith verschlagene Rabauken über Christian Adolf Isermeyer in ihre Abiturientenzeitung.

Folgende zwei Vorschläge gelangten in die engere Wahl. Auf einer der beiden hektografierten Zeichnungen – derjenigen, die Isermeyer als den Jünger Thalias darstellt – steht er in einem theatralisch, zugleich aber irgendwie auch sehr nachthemdartig wirkenden fußlangen Talar mit weiten, herabhängenden Ärmeln und einer Art Halskrause unter einer angedeuteten Säulen- und Triumpharchitektur. Ihr Giebelfeld ist mit einer Zeile aus Hamlets Mutterverfluchungs-, Frauenablehnungs- und Männer-, speziell Vaterverherrlichungsmonolog aus der zweiten Szene des ersten Akts verziert: „Let me not think on’t – Frailty, thy name is woman.“

Der Geist seines Vaters ist Hamlet da schon erschienen. Das jenseitige Absolute hat seine Forderungen geltend gemacht. Die Wirklichkeit ist schon nichts mehr als das wüste, sinnlose Grauen, das die Gnostiker in ihr gesehen haben. Frau Welt und die eigene Mutter sind Huren. Ophelia hat schon aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit nichts anderes verdient als den Tod im Wasser. Sollen sie alle sterben. Soll das dänische Königreich doch untergehen.

In der auf Augenhöhe erhobenen Hand hält Isermeyer Yoricks sehr genau und anatomisch richtig gezeichneten Schädel. Den kahlen Kopf in theaterhaft edler Pose zurückgelegt, sieht er ihm in die leeren Augenhöhlen: „Alas, poor Yorick!“ Das Schicksal des Narren (wie das des großen Alexander, sagt Hamlet) beweist uns nur, wie wenig angesichts des Todes und der allgemeinen Vanitas die Welt und das Leben unserer Mühe wert sind.

Aber in Wirklichkeit macht sich der Künstler über all das nur lustig: An einer dünnen Schnur hängt neben der Hand Hamlet/Isermeyers (sie hält die unvermeidliche Zigarette selbstverständlich wieder zwischen Ring- und Mittelfinger) eine grinsende Satyrmaske. Vor ihm steht, verkleinert wie die Stifter auf mittelalterlichen Altarbildern, eine Art Page mit einem kurzen Röckchen über dem wohlgerundeten Po. Er hebt ihm eine überdimensionierte, mehr als totenschädelgroße Teetasse entgegen. Verführerische Duftschwaden und Dampfwolken kringeln sich an Hamlets Nase vorbei. Der Tee, die dandyhaft gehaltene Zigarette, der Pagenpo sind in Wirklichkeit sogar in der tristen Umgebung des Internierungslagers wichtiger und realer als die absoluten Forderungen der jenseitigen Väterwelt. „Frouwe Werelt“ ist gar keine Hure. Oder vielmehr: wenn schon. Umso besser.

„In dem Lager gab es eine eigene Schwulenbaracke“, hat Isermeyer fast fünfzig Jahre später seinem Biografen Andreas Sternweiler erzählt, „die nannte sich allgemein so. In der hatten sich eine ganze Reihe von jungen Männern zusammengefunden, die tatsächlich schwul waren oder auch nur aus Mangel an Frauen mitmachten, vielleicht so vierzig Personen. Es gab ja keine andere Möglichkeit im Lager als schwulen Sex. Ich lebte nicht in der schwulen Baracke, aber ich bin dort oft zu Gast gewesen. Da war Highlife. Es gab selbst gebrannten Alkohol, homebrew hieß der. Abends wurden die Fenster verdunkelt, es wurde Musik gemacht, getanzt und ins Bett gegangen. […] Die kanadischen Wachleute haben das Treiben gebilligt, das sich auch noch nach 22.00 Uhr abspielte, lange nach dem Zapfenstreich. Einige haben sogar ganz gerne in der schwulen Baracke reingeschaut. Für die anderen im Lager war das alles ganz normal. Frauen gab es ja nicht. Die anderen haben sich nur einen abgewichst oder was weiß ich gemacht. Das Leben in der schwulen Baracke war da doch viel besser. Junge Leute haben halt ihre Bedürfnisse. Mein Freund G. K. war damals siebzehn Jahre alt. Er war damals schwul aus Mangel und machte mit. Später hat er wie so viele geheiratet. Durch G. K. war ich ein gern gesehener Gast in der schwulen Baracke. Es war für sie eine Ehre, dass ich als der Schulleiter zu ihnen kam.“

Wie Richard Schultz in Berlin gelingt es Christian Adolf Isermeyer und seinem anonymen Porträtisten in Kanada, die traurige und gefährliche Wirklichkeit mit einigen sicher gesetzten Strichen, mit wenigen jongleurhaft (traumwandlerisch) gehandhabten schweren Zeichen neu zu beschreiben und so zu verwandeln, dass sie zu ihren eigenen Bedürfnissen, Prägungen und zu ihrem unbedingten Lebenswillen plötzlich passen. Das ist die Funktion von Kunst und Kultur in jenem anderen, von Schwulen und von preußischen Jüdinnen des späten achtzehnten Jahrhunderts erfundenen Bildungsroman.

Ihm begegnete mein Vater nun. „Nachdem wir Freud gelesen haben, sehen wir weder Blooms starken Dichter noch Kants pflichttreuen Erfüller allgemeiner Verbindlichkeiten als paradigmatisch an. Denn Freud scheute gerade die Vorstellung, es könne ein paradigmatisches menschliches Wesen geben. Er versteht die Menschheit nicht als natürliche Art mit immanenter Natur, mit immanenten Kräften, die sich entwickeln oder unentwickelt bleiben können. Er bricht mit Kants Restplatonismus wie mit Nietzsches Umkehrung des Platonismus, er bringt uns dazu, Nietzsches Übermenschen und Kants gemeines sittliches Bewusstsein als Beispiele für zwei von vielen Formen des Umgangs mit den Kontingenzen der eigenen Erziehung, des Friedensschlusses mit einer blinden Prägung, anzusehen. Für beide spricht einiges. Beide haben Vor- und Nachteile.

Anständige Menschen sind oft ziemlich langweilig. Große Geister sind sicherlich der Verrücktheit nah. Freud steht in ehrfürchtiger Scheu vor dem Dichter, bezeichnet ihn aber als infantil. Durch den schlicht moralischen Menschen fühlt er sich gelangweilt, bezeichnet ihn aber als erwachsen. Weder gerät er über einen von beiden in Begeisterung, noch verlangt er von uns, eine Entscheidung zwischen ihnen zu treffen. Er ist nicht der Meinung, dass uns solche Entscheidungen offen stehen“ (Richard Rorty: „Kontingenz, Ironie und Solidarität“).

„But break my heart, for I must hold my tongue“, schrieb der Zeichner der Abiturientenzeitung Klatsche mit der letzten Zeile jenes Hamlet-Monologs unter das komische, schöne und tröstliche Porträt seines verehrten, vielleicht geliebten und jedenfalls hoch respektierten und geachteten schwulen Schulleiters Christian Adolf Isermeyer. Damit hat er sich wahrscheinlich selbst als Eingeweihter der warmen Bruderschaft von Liebe, Forschung und Lehre im Lager Monteith zu erkennen gegeben.

„Ich zog mit meinem Freund, dem Schiffsjungen, zusammen in eine Baracke, in eine Ecke“ (so wieder Isermeyer im Gespräch mit seinem Biografen). „Die teilten wir durch Decken ab von den anderen und hatten so in unserer Koje ein bisschen Privatleben. Er büffelte furchtbar für die Schule, die wir in dem Lager eingerichtet hatten. Ich arbeitete dort als Lehrer und war sogar der Schulleiter. Die Schüler haben bei uns sogar Abitur gemacht, das später in Deutschland anerkannt worden ist. Es gab eine Klasse für Abiturienten mit ungefähr 15 bis 20 Schülern und daneben eine Klasse für Einjährige [als „das Einjährige“ wurde die mittlere Reife bezeichnet; Anm. d. Red.]. Die jungen Leute bekamen so wieder ein Ziel, an dem sie arbeiteten. Andere spielten unentwegt Karten. Es gab mehrere Lehrer. Ich habe Deutsch unterrichtet. Es gab Lehrer für Mathematik, Physik, Englisch und vieles mehr. Das waren sehr gute Leute. Zum Teil waren es vom Beruf her ausgebildete Lehrer, die als solche im Ausland tätig gewesen sind. Eine Beschäftigung für die Männer zu erreichen war das Hauptanliegen. Sonst gab es natürlich viel Sport, Fußball und Hockey. Einige bekamen Musikinstrumente, so entstanden Musikgruppen und Orchester. Das Streichorchester war gut organisiert. Daneben gab es ein Blasorchester. Einige Leute hielten Vorträge über ihre Spezialinteressen. Ich habe damals angefangen, Japanisch zu lernen. Einer, der jahrelang in Japan gelebt hatte, bot den Sprachkursus an. Man musste sich doch irgendwie beschäftigen.“

Wir alle – und unsere Republik – mussten nach 1945 lange warten, bis es wieder denkbar wurde, dass der Besuch eines Schulleiters in einem schwulen Etablissement als eine ehrenvolle oder auch nur denkbare Sache betrachtet worden ist.

Das zweite Bild, auf dem der Lehrer meines Vaters als Hamlet mit Yoricks Schädel zu sehen ist, ist dann schon 1955 aufgenommen worden, auf einer Exkursion zu den französischen Kathedralen. Isermeyer und zwei (sehr clownartig wirkende) Universitätskollegen betätigen sich da offenbar irgendwie als Archäologen oder Totengräber. Sie haben vor einer gotischen Kirche eine Grube ausgehoben, in der einer von ihnen bis zur Brust steht und vor der wirklich einige menschliche Oberschenkelknochen liegen.

Isermeyer, auch hier ganz der Chef, hat sich von den niedrigen körperlichen Tätigkeiten dispensiert und einen menschlichen Schädel ergriffen, den die beiden Clowns aus der Grube zutage gefördert zu haben scheinen. Er hält ihn – die Zeichnung in der kanadischen Klatsche vielleicht halb bewusst nachstellend – sich auf Armlänge vor die grimmig sinnenden Augen. Seine Jacke hat er, ganz wie den weiten Ärmel des nachtgewandartigen Hamlet-Gewands aus der Abiturientenzeitung von Monteith, über den Arm drapiert. Auch hier ist es ein spielerisches Verhältnis zur Tradition, zu den Stimmen der großen Toten, das Isermeyer offenbart (während Hamlet selber mit seinem Königshaus, seiner Familie, seinem Land, mit Mann und Maus, an der Erscheinung der Vorwelt im Leben zugrunde geht).

Isermeyer war überhaupt von der Art, die niemals zugrunde geht. Er kam aus der kühnen und geborgenen Welt des vorfaschistischen deutschen Großbürgertums nach Monteith. Man war in jenen Familien, Villen und Internaten zwar auch gebildet. Aber im Gegensatz zu uns in unserer Försterdienstvilla in Laskowitz und im südafrikanischen Pfarrhaus von Windhuk hatte man da außerdem auch noch richtiges, ernsthaftes Geld. Durch Bücherkäufe, Auslandsreisen, teure hübsche Jungs, elegante Anzüge, schönen Wein und gutes Essen war es keinesfalls zu erschöpfen.

Die Arztvilla in Goslar gehörte der Familie selber. Und die Isermeyers hätten sie auch besessen, wenn sie sich um die ganze Bildung einen Dreck geschert und sich stattdessen nur für Pferde und das Reiten interessiert hätten (was Isermeyer, wie er beiläufig bemerkt, allerdings auch perfekt konnte).

„Die französische Lebensart und Kultur, die Isermeyer dann während seines Studienaufenthalts erlebte, waren es, die ihn beeindruckten und seine Lebensweise für die Zukunft mitgeprägt haben. Ein gewisses Laisser-faire, gutes Essen, guter Wein und der Genuss schöner Dinge gehörten hinfort zu seinen Bedingungen, die er an ein gutes Leben stellte und in fast allen, auch noch so widrigen Umständen erreichte.“

Nichts bewunderte ich, der immer von irgendwelchen höheren Stellen abhängige Bildungskleinbürger, auf meinem Balkon in der Biografie Isermeyers lesend, mehr an diesem Sohn wirklicher Bildungsbürger als seine persönliche Souveränität. Die Tradition ist nicht das Einzige, woran die sich halten konnten, dachte ich neidisch vor mich hin. Die Erscheinung der Toten in ihrem Leben war nie eine Religion für sie. Sie mussten den Stimmen aus dem Jenseits nicht bedingungslos gehorchen. Sie haben sich mit ihnen arrangiert, sie benutzten sie, sich ihr Leben so vorzuerzählen, dass es gelingt (dass es noch gut aussieht, wenn es eigentlich misslungen ist).

Sie formulierten ihre verpönten Wünsche so, dass sie ohne Lebenskatastrophe in Erfüllung gehen.

STEPHAN WACKWITZ, 53, ist seit diesem Jahr Leiter des Goethe-Instituts in Bratislava. Das literarische Werk des studierten Germanisten und Historikers umfasst neben unzähligen Aufsätzen unter anderem die Essaysammlung „Selbsterniedrigung durch Spazierengehen“ sowie den Familienroman „Ein unsichtbares Land“. Sein jüngster Bildungsroman, „Neue Menschen“, erscheint im S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) und kostet 19,90 EuroIm Berliner Verlag Rosa Winkel erschien 1998 der von Andreas Sternweiler herausgegebene Band „Liebe, Forschung, Lehre: Der Kunsthistoriker Christian Adolf Isermeyer“ (Band 4 der vom Schwulen Museum Berlin herausgegebenen Reihe „Lebensgeschichten“, 14,95 Euro)