Raumbilder sind Träume der Gesellschaft

Thomas Bernhards Wohnkegel, Franz Kafkas Schloss oder Wolfgang Koeppens Treibhaus: Wie viel Architektur in der Literatur steckt, fragte ein Symposium in Dresden

Literatur und Architektur haben auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun. Obwohl Romane und Erzählungen wie „Notre-Dame de Paris“ (Victor Hugo), „Die Architekten“ (Stefan Heym), „Das Hotel New Hampshire“ (John Irving) oder „Sommerhaus, später“ (Judith Hermann) Architektur schon im Titel tragen und zeitgenössischer Dramatik Architekten immer wieder zentrale dramatis personae sind, sind die gegenseitigen Interdependenzen von Schrift- und Baukunst noch unerforscht. Ein erster Schritt zu ihrer Erforschung wurde nun in Dresden auf dem internationalen Symposium „Literatur und Architektur unternommen.

Zur „Ästhetik des umbauten Raumes“ diskutierten Kulturwissenschaftler, Feuilletonisten und Bau-Theoretiker fächerübergreifend und in entspannter Atmosphäre. Die Themenblöcke umfassten Bauen als Metapher, imaginäre und reale Gebäude in Architekturdichtungen und Architekturtheorie als Literatur in Beschreibung und Traktaten. Wenn es zuweilen etwas wolkig wurde, meldeten sich schnell die Empiriker zu Wort, sodass die gesamte Veranstaltung eine solide Erdung besaß.

„Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich“, zitierte der Medien- und Literaturhistoriker Detlev Schöttker eingangs einen Satz aus den Oktavheften Franz Kafkas. Was zunächst freudianisch-psychoanalytisch klingt, hat seinen Hintergrund in der menschlichen Raumwahrnehmung. Das Zitat kennzeichnet, so Schöttker, „dass Architektur nicht nur auf den umbauten Raum oder die konstruktive Durchdringung von Innen- und Außenbereichen beschränkt werden kann, sondern auch auf Denk- und Empfindungsweisen Einfluss nimmt“. Individuelle Raumerfahrungen, die Verbindung zwischen biografisch erlebter Architektur, Gedächtnis und Traum kann in literarische Texte projiziert werden, wie Walter Benjamins „Einbahnstraße“ zeigt – genauso wie aus literarischen Texten Anregungen für reale Gebäude hervorgehen können, was Winfried Nerdinger in seinem Vortrag deutlich machte.

Zu den Gebäuden, die aufgrund von schriftstellerischen Darstellungen gebaut wurden, zählt unter anderem Bruno Tauts „Glashaus“ für die Kölner Werkbundausstellung von 1914. Dieses beruht auf literarischen und theoretischen Anregungen des „Architekturdichters“ Paul Scheerbart. Nerdinger, Direktor des Architekturmuseums der TU München, lässt in diesem Sinne von seinen Studenten Modelle anfertigen, die auf literarischen Architektur- und Stadtbeschreibungen basieren. So unter anderem von Thomas Morus’ Roman „Utopia“, von Thomas Bernhards „Wohnkegel“ aus dem Roman „Korrektur“ bis zum „Ministerium für Wahrheit“ aus George Orwells Roman „1984“.

Im Grunde ist jeder Schriftsteller auch ein fiktiver Baukünstler, bei dem die Roman-Architektur bestimmte Funktionen im Erzählverfahren übernimmt. Handlungsorte werden so konkretisiert, und das Personal muss natürlich auch räumlich miteinander korrespondieren. So zeigen etwa die Architekturzeichnungen Gustave Flauberts und Emile Zolas, wie sich beide in „Madame Bovary“ oder in „Travail“ räumliche und personelle Verknüpfungen auf der visuellen Ebene vor Augen führten.

Darüber hinaus ist die Symbolik von Architektur- und Raumordnungen auch als Codierung sozialer Ordnung lesbar. Die Dynamik sozialer Veränderung ist mit Raumsymboliken ebenso fassbar, wie sich bestimmte gesellschaftliche Gruppen an ihrem historischen Ort und ihrer kollektiven Mentalität darin abbilden: „Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar“, schrieb Siegfried Kracauer in „Straßen in Berlin und anderswo“. In diesem Sinne untersuchte die Literaturwissenschaftlerin Chryssoula Kampas die Rolle der Architektur in Wolfgang Koeppens Roman „Die Mauer schwankt“ und auch in „Treibhaus“. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die architekturnahen Beobachtungen Koeppens als Kritik sowohl am deutschtümelnden Bauen im Heimatstil während der NS-Zeit als auch an dessen Fortsetzung in der Bonner Republik zu lesen seien. Aus der Architekturkritik leite sich so die Kritik an wirtschaftlichen und politischen Kontinuitäten ab.

Bei Franz Kafka wiederum, man denke an „Das Schloss“ oder „Der Bau“, wird die labyrinthische Architektur zur Signatur einer pessimistischen Moderne-Reflexion, wie Ulf Jonak erläuterte. Weitere Diskussionen drehten sich zum Beispiel um Dichterhäuser, etwa die Villa Thomas Manns im kalifornischen Exil, um die Rolle des Fahrstuhls in der vertikalen Ordnung von Gebäuden und um Bauwerke aus Buchstaben, wie sie in der visuellen Poesie des Barock zu finden sind. Aufgrund dieser reichen Befunde und fruchtbaren Debatten wäre es eine logische Konsequenz, wenn sich nun auch am Horizont der Geistes- und Kulturwissenschaften ein architectonic turn abzeichnen würde.

ROBERT HODONYI