Brasilianische Initialzündungen

Etliche Bilder sind erstmals in Europa zu sehen: Das Museum für Völkerkunde widmet sich intensiv dem „Modernismo“ des südamerikanischen Landes

von Hajo Schiff

Dramatisch verschattet, doch mit energischem Kinn, mit fragendem Blick, aber verwegen dynamischem Hut zeigt sich der Künstler in einer Zeit des Aufbruchs. Dieses expressive Selbstporträt von José Pancetti (1904–1958) ist eines der 60 Werke aus der Sammlung des Museu de Arte Brasileira aus São Paulo, die jetzt erstmals in Hamburg – im Museum für Völkerkunde – zu sehen sind. Manche dieser hochkarätigen Bilder sind sogar noch nie in Europa gezeigt worden. Das liegt auch daran, dass das Thema dieser Schau, der brasilianische Modernismus der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, hierzulande kaum bekannt ist. Doch für Brasilien handelt es sich um die bis heute folgenreichste kulturelle Bewegung.

Die 1922 in São Paulo organisierte „Woche der modernen Kunst“ ist so etwas wie die Initialzündung der selbständigen brasilianischen Kultur. Aus Anlass des 100jährigen Jubiläums der Unabhängigkeit von Portugal begann damals ein Kreis von Künstlern und Intellektuellen um den Musikwissenschaftler, Ethnologen und Schriftsteller Mario de Andrade (1893–1945) in São Paulo zum Zwecke der Selbstverortung mit einer erneuten Entdeckung Brasiliens. Das war etwas ganz Neues, denn dem höchst konservativen Bürgertum war Europa näher als das eigene Hinterland.

Nicht nur die Erfahrungen einer großen Brasilienreise waren übrigens für Mario de Andrade wichtig, um 1928 das später verfilmte Nationalepos Macunaíma zu schreiben, es finden sich auch Spuren der Lektüre der Forschungen des deutschen Ethnologen Theodor Koch-Grünberg bei den Taulipang und Arekuná-Indianern. Der polyglotte Andrade, der auch Deutsch sprach, war ein Intellektueller und Forscher, nicht unähnlich etwa André Breton. Die Hamburger Ausstellung Befreit und selbstbewusst – Brasiliens ,Modernismo‘ im frühen 20. Jahrhundert ehrt den Kulturbeweger mit der Inszenierung seines Arbeitszimmers. Die zweite epochemachende Veröffentlichung jener Zeit war das 1928 erschienene Manifesto Antropófago – das surrealistische Bekenntnis zur Menschenfresserei als Aneignungs- und antieuropäischem Umdeutungsprozess zur Gewinnung eigener Identität. Dessen Autor, Osvald de Andrade (1890–1953), war verheiratet mit der Malerin Tarsila do Amaral (1890–1973), die in Paris bei Leger gelernt hatte, nun aber einen eigenständigen kubistisch-folkloristischen Stil entwickelte. Eine weitere in Hamburg gezeigte Künstlerin aus diesem Kreis ist die expressiv malende Anita Malfatti (1889–1964); sie hatte bei Lovis Corinth studiert.

Alle Bilder der Ausstellung stammen aus dem Besitz der FAAP – Fundacão Armando Alvares Penteado in São Paulo. Die seit über 50 Jahren bestehende Kulturstiftung braucht in ihrer Größe und Bedeutung internationale Vergleiche nicht zu scheuen. Allein ihre Sammlung umfasst etwa 2.500 Arbeiten und wurde letzte Woche noch erweitert: Aus Anlass seines 80. Geburtstages wurde für die Ausstellung ein frühes Werk des in Hamburg lebenden Brasilianers Almir Mavignier angekauft. Der hatte 1950 in São Paulo eine Ausstellung des konkreten Künstlers Max Bill gesehen, war 1953 an die Hochschule für Gestaltung in Ulm gegangen und lehrte ab 1965 als Professor an der Kunsthochschule in Hamburg. Seine schwarzgrundige Farbkomposition steht nun zusammen mit Arbeiten von Lygia Clark, Arcangelo Janelli und Alfredo Volpi für jenen nicht expressiven, sondern abstrakten Zweig der Nachwirkungen des Modernismo, bei dem sich in den fünfziger Jahren die Architekturen und Farben Brasiliens mit der Grammatik des Bauhauses verbanden.

Die Ausstellung im Museum für Völkerkunde ist mit einigen historischen Großfotos auch eine Hommage an São Paulo, jene vielschichtige Metropole, in der deutsche und jüdische, italienische und japanische Einwanderer zu einer besonderen Kulturmischung beigetragen haben und die nicht zuletzt mit der 1951 gegründeten, zweitältesten Biennale der Welt, als Südamerikas Kunsthauptstadt gelten kann.

„Befeit und Selbstbewusst – Brasiliens ,Modernismo‘ im frühen 20. Jahrhundert“: Di–So 10–18, Do bis 21 Uhr; Museum für Völkerkunde; bis 26. 2. 2006.