Gefängnis aus Schweigen

Einfühlsame, nicht moralisierende Studie menschlicher Reaktionen auf ausweglose Unheilbarkeit: Isabel Osthues inszeniert Jan Neumanns Stück „Liebesruh“ am Thalia in der Gaußstraße

von Karin Liebe

Glückliche Urlaubstage am Strand, gelöste Gesichter. Karl (Markwart Müller-Elmau) filmt seine Frau Regine (Angelika Thomas), die ausgelassen am Meer herumspringt. Am Abend gehen sie noch tanzen, am nächsten Morgen der Schlag: Regine liegt leblos im Bett. Ein Schlaganfall lähmt ihren Körper, nur die Augen kann sie noch bewegen.

Diese Geschichte stammt von dem 30-jährigen Jan Neumann. Ein ungewöhnlicher Stoff für einen so jungen Autor, doch der geht souverän damit um. In Isabel Osthues‘ Uraufführung von Liebesruh am Thalia in der Gaußstraße kann sich wohl kein Zuschauer den quälenden Fragen entziehen: Wie würde ich reagieren, wenn der Mensch, der mir am nächsten steht, zum Pflegefall würde? So wie Karl, der sich zunächst versteinert zurückzieht und später, als alle Hoffnung schwindet und Regine in ein Pflegeheim abgeschoben werden soll, seine Frau tötet? Und wie verhielte ich mich als Angehöriger, als Ärztin, als Kollege oder Nachbarin?

Neumann spielt mit sehr einfühlsam einige Verhaltensvarianten durch. Karls Bruder (Michael Benthin) erzählt in einer Mischung aus Arroganz und Hilflosigkeit lieber von sich, anstatt zuzuhören. Die Ärztin redet zwar mit Karl, aber in einer Sprache, die er nicht versteht. Reaktionen, die von der Hilflosigkeit im Umgang mit Krankheit und Sterben erzählen, ohne moralisierend zu werden. Der Autor findet die richtigen Worte und Situationen, die weder im Hyperrealismus erstarren noch in Künstlichkeit abdriften. Ihm geht es nicht um das Thema Sterbehilfe, sondern er zeigt auf, wie ganz normale Menschen mit einer alltäglichen Katastrophe umgehen. Manche sind Meister des Verdrängens – wie Karls Nachbarin, die den Tod ihres Ehemanns leichter zu verschmerzen scheint als den ihrer Haustiere. Ihr Lebenselixier ist die Neugierde. So beobachtet sie Karl heimlich, wie der mit einer Topfpflanze tanzt. Solche rührend-komischen Momente streut Osthues immer wieder ein und macht damit die todtraurige Story (v)erträglicher.

Auch der Auftritt von Karls Arbeitskollegen mit ihren oberflächlichen Kabbeleien lassen zeitweise vergessen, dass Karl am Boden zerstört ist. Geschickt wechselt die Szenerie von der Kantine zum Krankenhaus, vom Hausflur zu Karls Wohnzimmer. Karls enger Alltag spielt sich zwischen austauschbaren blauen Kachelwänden ab. Nur die Topfpflanze symbolisiert hier so etwas wie Leben. Als ihm die Ärztin eröffnet, dass die entzündeten Zähne seiner Frau gezogen werden müssen, brüllt er: „Die Zähne bleiben drin!“ Es bleibt sein einziger Gefühlsausbruch in dieser wohltuend zurückhaltenden Inszenierung, die als quälendes Sozialdrama beginnt, später aber an Leichtigkeit gewinnt. So wirft der passionierte Kegler Karl ein paarmal sehr elegant und zielsicher eine Kugel an die gekachelten Schrägen. Erstaunlicherweise prallt sie dort nicht ab, sondern wird sanft verschluckt. So wie Karl schließlich auch ohne viele Worte einen Ausweg findet.

Nächste Vorstellung: Do, 20.10., 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße