Helmut Schmidt Superstar

Heute um 20.40 Uhr rekonstruiert der Regisseur Raymond Ley auf Arte die Hamburger Sturmflut von 1962. Dabei stört immer wieder die Inszenierung

„Auch in den Spielszenen mit Ulrich Tukur als Helmut Schmidt wird das Bild des perfekten Staatsmannes bedient“

VON GIUSEPPE PITRONACI

Manchmal sind sie den Tränen nah – die Frauen und Männer, die von der Hamburger Sturmflut im Jahr 1962 erzählen. Was kein Wunder ist, angesichts der menschlichen Tragödien, die damals geschahen. Die Sturmflut schien für die Küste relevant; im Hamburger Bereich wähnte man sich weit weg davon und in Sicherheit. Aber in der Nacht zum 17. Februar brach das Wasser Deiche und überflutete weite Teile im Landesinneren. Die Flut überraschte viele im Schlaf, Familien wurden auseinander gerissen, 315 Menschen kamen ums Leben.

Die dokumentarischen Teile in Raymond Leys Film hätten auch für sich gesprochen. Die Zeitzeugen erzählen anschaulich, wie sie jene Nacht erlebten. Durch ein ruhiges Kamera-Auge sehen und hören wir ihnen zu, die Bilder entfalten sich vor unserem inneren Auge, von allein.

Aber wir sind im Fernsehen und wir sind im Zeitalter der Doku-Fiktion. Nur dem inneren Auge der Zuschauer traut kein Programmmacher. So ergänzen Spielfilmszenen die Erzählungen der Zeitzeugen, indem sie diese unmittelbar bebildern. Dadurch wird der authentische Anspruch der Spielfilmszenen unterstrichen.

Aber das ist in Ordnung. Die meisten Schauspieler überzeugen, allen voran Christiane Paul als resolute junge Mutter. Die Ausstattung ist detailliert und liebevoll. So entsteht eine lebendige Zeichnung des kleinbürgerlich-ländlichen Milieus im Dunstkreis von Hamburg in den Zeiten des Wirtschaftswunders. In das über Nacht eine Katastrophe einbricht. Somit ergänzen sich die dokumentarischen Erzählungen der Zeitzeugen und die Filmszenen wie ein Buch mit treffenden Zeichnungen.

Was an Leys Film stört, ist etwas ganz anderes: Helmut Schmidt. Oder vielmehr: die Inszenierung von Helmut Schmidt. Schon im dokumentarischen Teil wird er abweichend in Szene gesetzt von den „gewöhnlichen“ Zeitzeugen. Im Halbschatten darf er ganz gelassen Zigaretten rauchen und bedeutungsschwere Sätze sagen wie: „Selbstverständlich war Hamburg genauso von Katastrophen bedroht wie London oder Paris oder wie New York … (Denkpause) … oder Rio de Janeiro. Selbst solche Banalitäten werden durch die Inszenierung zu pathetischen Weisheiten des Elder Statesman aufgeladen. Auch in den Spielszenen mit Ulrich Tukur als Helmut Schmidt wird das Bild des perfekten Staatsmannes bedient. Als Hamburger Innensenator darf er den Helden spielen: Er setzt sich über das Grundgesetz hinweg, nimmt einen unfähigen, bürokratischen und überforderten Polizeiapparat in die eigene Hand und betreibt handfestes Katastrophenmanagement. Alles zum Wohle der Bevölkerung.

Sowohl durch den Tukur-Schmidt als auch durch den Schmidt-Schmidt wird plump das Bild transportiert, das die Gesellschaft längst für Helmut Schmidt reserviert hat: ein aufrechter Politiker, der Politik noch als Dienst am Menschen verstand. Der anzupacken wusste und sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. Akademisch und dennoch volksnah. Und der darüber zum weisen alten Staatsmann gereift ist. Entrückt und unantastbar. In der Gesellschaft mag es ein Bedürfnis nach solchen Archetypen geben. Aber Helmut Schmidt als Mensch wird dadurch nicht greifbarer.

Ob wir bei RTL einen anderen Helmut erwarten dürfen? Die TV-Konkurrenz hat sich nämlich auch mit der Hamburger Sturmflut beschäftigt. Und den bisher teuersten Spielfilm des deutschen Privatfernsehens produzieren lassen. „Die Sturmflut“ hat 8 Millionen Euro gekostet und soll nächstes Jahr gezeigt werden. Anders aber als bei Arte sind fast alle Personen ausgedacht. Von der Handlung ist auch schon einiges bekannt: Arzt und Krankenschwester wollen heiraten, Eifersucht kommt ins Spiel und so weiter. In diesen Arztroman-Plot bricht dann die Flut ganz authentisch herein.