Die Krise als Chance
: KOMMENTAR VON RALPH BOLLMANN

Einen Tag lang war die Berliner Aufregungsmaschine mal wieder kräftig in Aktion. Personelle Erosion der beiden großen Volksparteien, Scheitern der schwarz-roten Koalitionsverhandlungen, selbstmörderische Neuwahlen und große Staatskrise im kommenden Frühjahr – das war ein Szenario, das für einen kurzen Moment lang durchaus realistisch schien. So verworren war die Lage, dass die FDP sogar wieder mit ihrem Ladenhüter einer „Jamaika-Koalition“ hausieren ging.

Nüchtern betrachtet ist die Tragik der beiden jüngsten Rückzüge durchaus begrenzt. Dass Stoiber die 24 Stunden der Unsicherheit über Franz Münteferings Eintritt in ein künftiges Bundeskabinett zum schnellen Absprung nach München nutzte, ist vor allem ein Unglück für ihn selbst und in zweiter Linie für die Bayern, aber keineswegs im Hinblick auf Berlin. So nachhaltig wie einst Franz Josef Strauß wird er den Gang der Berliner Regierungsgeschäfte von der bayerischen Staatskanzlei aus gar nicht stören können. Dafür ist sein politisches Gewicht durch das Hin und Her um den möglichen Wechsel nach Berlin allzu sehr geschrumpft. Nach dem monatelangen Egotrip wird Stoiber vollauf damit beschäftigt sein, die Lage in München wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dauerhaft wird ihm das wohl kaum gelingen.

Und Müntefering? Dessen gestrige Ankündigung, weiter als Vizekanzler und Arbeitsminister zur Verfügung zu stehen, hat die Sprengkraft seines Rückzugs vom Parteivorsitz zumindest in Bezug auf die Koalitionsverhandlungen begrenzt. Zwischen einem Vizekanzler Müntefering und dem künftigen SPD-Vorsitzenden könnte es nun genau jene sinnvolle Arbeitsteilung geben, die der Vorstandsmehrheit zwischen einem Parteichef Müntefering und einer Generalsekretärin Andrea Nahles vorschwebte.

Die damit besiegelte Trennung von Partei- und Regierungsämtern bei CSU und SPD birgt zwar Risiken für eine große Koalition. Zugleich liegt darin aber für beide Partner eine Chance. Die Union ist den Störenfried Stoiber los, und die Sozialdemokraten haben womöglich einen Weg gefunden, wie sie auch in einer großen Koalition als Partei kenntlich bleiben können.