„Der SPD fehlen Maß und Mitte“

Visionen und das harte politische Alltagsgeschäft in der Sozialdemokratie müssen in Zukunft stärker als bisher miteinander verknüpft werden, fordert Ute Vogt, die um Ausgleich in der Partei bemühte stellvertretende Bundesvorsitzende und Landeschefin der SPD aus Baden-Württemberg

taz: Wohin wird sich die SPD nach dem Abgang von Parteichef Franz Müntefering bewegen?

Ute Vogt: Bei den Koalitionsverhandlungen mit der Union ändert sich gar nichts. In welche Richtung sich das Profil der Partei entwickelt, wird die Programmdebatte 2006 zeigen.

Der SPD ist gerade ihre alte Führung abhanden gekommen, die Hartz IV, die Neuwahlen und die große Koalition organisiert hat. Schwer vorstellbar, dass jetzt alles normal weiterläuft.

Doch, kurzfristig findet die Arbeit statt auf Basis des Wahlprogramms. Das hat sich ja nicht geändert.

Hat die Partei ohne Franz Müntefering nicht viel mehr Bewegungsspielraum als vorher?

Es besteht die Chance, dass die Partei künftig von einer größeren Zahl unterschiedlicher Persönlichkeiten repräsentiert wird – aber bewegen müssen die sich schon gemeinsam.

Gibt es Positionen, die bislang zu kurz gekommen sind?

Die SPD neigt dazu, in Wellenbewegungen zu diskutieren. Einerseits über Reformen, dann wieder nur über Gerechtigkeit. Man muss aber beides verbinden.

Modernisierung und Hartz IV hat die SPD schon buchstabiert – nun müsste also die gesellschaftliche Solidarität in den Mittelpunkt rücken?

Nein, beides ist vorhanden. Es muss aber eine kontinuierliche Verbindung geben. Der Politik der SPD fehlen Maß und Mitte, es geht immer munter hin und her. Wir müssen auch mehr über unsere Vision reden: Was wollen wir eigentlich erreichen? Was können wir tun, um die großen Menschheitsprobleme in den Griff zu bekommen – etwa die weltweite Knappheit von Wasser und Öl? Wir machen doch Politik, um das Leben der Menschen hier und anderswo zu verbessern.

Weltweite Gerechtigkeitspolitik führt ziemlich automatisch zu zentrifugalen Tendenzen in einer großen Koalition mit der Union.

Nicht unbedingt. Visionen und harte politische Tagesarbeit sind zwei Seiten derselben Angelegenheit. Die SPD will beispielsweise mehr staatliche Verantwortung als die Union. Das kann und muss sich auch in der Tagespolitik niederschlagen. Man kann zum Beispiel die Steuern nicht immer weiter senken.

Genau an einem solchen Punkt bringen die neuen Möglichkeiten, die die SPD als Partei nun hat, sie auch vermehrt in Konflikt mit der Union.

Nein, Vision und Alltagsarbeit müssen gleichzeitig möglich sein. Denn eigenständige Gedanken bedeuten nicht automatisch, die Regierung zu kritisieren. Das wurde in den vergangenen Jahren leider zu oft so wahrgenommen.

Für diese Eingeschränkheit des Denkens und seine Kopplung an den Koalitionsvertrag stand Franz Müntefering, der nun vor der neuen Offenheit kapituliert hat.

Das stimmt nicht. Müntefering hat inhaltliche Debatten doch sehr bewusst organisiert. Die Alternative zwischen seinem Kandidaten Kajo Wasserhövel und Andrea Nahles war ja auch keine Rechts-Links-Entscheidung.

Ging es nicht im Kern um die Fragen, wie unabhängig die Partei von der Regierung sein und ob sie überhaupt eigenständig denken darf?

Das hat eine Rolle gespielt. Manche Leute, die am Montag für Andrea Nahles gestimmt haben, hatten Angst davor, dass die Partei gar nicht mehr stattfindet. Meine Befürchtung war das aber nicht. Ich habe für Andrea Nahles plädiert, weil ich nach außen die stärkere, eigenständige Rolle der Partei betont sehen wollte.

Ist Andrea Nahles die Frau, die Franz Müntefering gestürzt hat?

Nein, er ist nicht gestürzt worden, sondern selbst zurückgetreten. Außerdem war Andrea Nahles nicht allein, wir 23 müssen die Verantwortung gemeinsam tragen. INTERVIEW: HANNES KOCH