Eine wilde Zeit

Michael Sontheimer hat im Berlin-Teil der taz für die Trennung von Bericht und Kommentar gesorgt und für die Abnabelung von der linksradikalen Szene. An der Trennung von Baumafia und Politik ist er leider gescheitert

Es macht immer Spaß, etwas neu anzufangen. Deshalb habe ich das erste Jahr in der Lokalredaktion als chaotisch und erfrischend in Erinnerung: eine wilde Zeit.

Das journalistische Konzept war eher seriös, wir wollten einen weiteren Schritt in Richtung Professionalisierung tun. Bis dahin waren die Artikel ein Einheitsbrei aus kommentierenden Berichten. Im Berlin-Teil haben wir erstmals Kommentar und Bericht getrennt. Auch Glossenspalten und Reportagen haben wir eingeführt. Durch den späteren Redaktionsschluss konnten wir wesentlich aktueller sein als die überregionale Ausgabe.

Sich von den anderen Zeitungen abzusetzen war ziemlich einfach. Die Mottenpost war ein betuliches Omablättchen, und der Tagesspiegel auch sehr trocken. Dank der Hausbesetzerbewegung waren wir von Anfang an sehr erfolgreich und einflussreich. Der Innensenator schickte oft noch nachts einen Mitarbeiter los, der bei einem Handverkäufer die neue Ausgabe kaufen musste, um schnell zu wissen, was in der Besetzerszene los ist.

In der Redaktion hat sich schnell eine „Viererbande“ herausgebildet, die für die politische Berichterstattung zuständig war: Johann Legner, Benny Härlin, Benedict Mülder und ich. Einen Chef gab es nicht. Jeder war im Wechsel zwei Wochen für das Blattmachen verantwortlich.

Wir waren dabei die Avantgarde im Abnabelungsprozess der taz vom linksradikalen Milieu. Unser Anspruch war, alle Flügel der Bewegung vom militanten Punk bis zum älteren Alternativen abzubilden. Aber unsere Position war ganz klar reformistisch: Wir glaubten nicht, dass die Weltrevolution jetzt kommt . Man konnte in dem von Alliierten besetzten West-Berlin keine freie Räterepublik etablieren. Wir wurden heftig angegriffen. Weil wir uns weigerten, Erklärungen des Besetzerrates im Wortlaut abzudrucken, flogen wir bei Treffen, über die wir berichten wollten, zum Teil raus. Das war die Zeit, in der die Parole geboren wurde: taz lügt. Später gab es auch einen taz-Boykott.

Was wir leider nicht geschafft haben, ist, den Berliner Sumpf – die notorische Korruption zwischen Politik und Bauwirtschaft – auszutrocknen. Diepgen, Landowsky und ihrer mafiotischen Gruppe, die Berlin fast in den Bankrott geführt hat, hätte schon viel früher das Handwerk gelegt werden müssen. Da hat die gesamte West-Berliner Presse versagt. Die hätte dafür sorgen müssen, dass diese Truppe nicht bis ins dritte Jahrtausend ihren Machenschaften nachgehen kann. Aber um richtig investigativen Journalismus zu machen, hätte es mehrerer Reporter bedurft, die wochenlang von der aktuellen Produktion freigestellt worden wären. Das hat sich die taz leider nie leisten können.

Solche gründlichen Recherchen – wie über den Antes-Skandal – habe ich dann bei der Zeit machen können, zu der ich 1985 abwanderte, weil mir die endlosen Diskussion bei der selbstverwalteten taz zu sehr auf die Nerven gingen. Dort allerdings machte ich die Erfahrung, dass man zwar ausufernd recherchieren konnte, aber – aus politischen Rücksichtnahmen – nicht immer alles auch gedruckt wurde. Ideale journalistische Bedingungen gibt es nicht, und die des taz-Lokalteils sind nach wie vor beschränkt – was mich nicht davon abhält, ihm, den ich täglich lese, ein ewiges Leben zu wünschen. MICHAEL SONTHEIMER