Auf Demontage

Die Heiterkeit im Ratskeller währt exakt so lange wie Platzecks überraschender Besuch: eine halbe Stunde„Die Nahles ist erst mal einen Kopf kürzer gemacht, gut“, sagt der Genosse,„aber sie ist nicht weg“

AUS POTSDAM-BABELSBERGHEIKE HAARHOFF

„Es liegt in der Tradition der SPD, sich selbst zu demontieren.“ Wilhelm Marquardt zischt die Worte wie einen Fluch. Die anderen am Tisch lächeln gequält. Stundenlang haben die Mitglieder des SPD-Ortsvereins Potsdam-Babelsberg ihrer Fassungslosigkeit freien Lauf gelassen. Das Gespräch hat keinen therapeutischen Effekt gehabt.

Jetzt sitzen sie im verrauchten Ratskeller, zwei Stockwerke unter ihrem Versammlungsraum. Zwanzig Leute, Architekten, Bauunternehmer, Besitzer von Gourmetrestaurants, ein Ministerialdirigent und Wilhelm Marquardt, früher Ausstatter bei der Defa-Spielfilm. Leute, von denen man denkt, dass sie der Partei und Deutschland einen Ruck geben. Aber an diesem Donnerstagabend fehlt ihnen sogar die Energie, den Frust mit Alkohol herunterzuspülen. „Ohne Not den Parteichef abzuschießen, mitten in den Koalitionsverhandlungen“, murmelt eine Frau. Sie nippt lustlos an ihrem Cabernet Sauvignon, einige kauen apathisch an ihren Pfeffersteaks.

Da taucht im Durchgang zum Séparée ein Gesicht auf. Ein Smiley: lächelnder Mund, fast bis zu den Ohren, treuseliger Blick aus braunen Augen. Plötzlich werden die Leute munter. Sie lachen, klatschen, einige erheben sich. Der Applaus dauert Minuten. Das Gesicht im Durchgang ist das von Matthias Platzeck.

„Ja, lacht mich ruhig aus“, sagt er, schüttelt Hände und quetscht sich dann in eine Bankecke. „Eins sage ich euch gleich“, er wartet, bis es still wird, „Papst werde ich nicht auch noch. Wegen meiner Neigung zum anderen Geschlecht.“ Zwanzig Menschen, eben noch griesgrämig, lachen.

Matthias Platzeck hat ein Gespür für Situationen. Er weiß, dass die Erschütterung, die die Partei zu Wochenanfang erfahren hat, auch den Babelsberger Ortsverein getroffen hat, in dem er Mitglied ist. Vielleicht erleben sie gerade seinen letzten Überraschungsbesuch bei einer regulären Mitgliederversammlung. Vielleicht, bangen manche, wird er in einigen Monaten nicht einmal mehr Ministerpräsident von Brandenburg sein.

Wer weiß, welche Energien die Bundespartei ihrem künftigen Vorsitzenden rauben wird bei dem Versuch, ihre zerstrittenen Lager in der Debatte um Demokratie- und Führungsstil wieder zu versöhnen. Und dann auch noch die Koalitionsverhandlungen mit der CDU, die aus dem jüngsten sozialdemokratischen Debakel Kapital zu schlagen versucht. „Ich“, sagt Wilhelm Marquardt leise, „habe Bedenken, dass der Mann sich aufreibt“.

Matthias Platzeck kennt diese Ängste. Also spricht er seinen Genossinnen und Genossen Mut zu. Sagt, dass er Babelsberger bleibt und die Partei jetzt trotz allem keine Schwäche zeigen darf: „Der Parteitag darf nicht zum Zerreißen führen, sonst sind wir am Arsch.“ Die Runde nickt. Sie werden hinter ihm stehen, und hinter vermutlich allem, worum er sie bittet.

Denn Matthias Platzeck redet nicht von oben herab, sondern wie jedes Mitglied des Ortsvereins. Das ist das längst bekannte Geheimnis seines Erfolgs, aber es zieht immer noch. Und mit der gleichen Offenheit bereitet er seine Mannschaft darauf vor, dass nicht nur der Umgangsstil innerhalb der Partei, sondern auch Leben und Anspruchshaltung in Deutschland sich drastisch werden ändern müssen.

Angesichts einer dramatischen Haushaltslage, über die er gerade mit der CDU-Chefin Merkel als künftiger Kanzlerin beraten habe. „Ein 35-Milliarden-Loch!“, ruft Platzeck. Er klingt fast fröhlich angesichts dieser Herausforderung. „Ich hab die Angie angeschaut und ihr gesagt, wir kaufen uns besser ein Ticket und fahren nach Malle.“

Die allgemeine Heiterkeit im Ratskeller dauert genauso lange wie Matthias Platzecks überraschender Besuch: eine knappe halbe Stunde. Danach ist es, als sei der Zauber verflogen, und zurück bleibt der Ärger über eine Woche, die die Partei vorübergehend ins Chaos gestürzt und in ihren Grundfesten erschüttert hat. „Denn auch wenn es jetzt für uns glimpflich ausgegangen ist und wir stolz sind, dass Matthias den Bundesvorsitz übernimmt“, sagt die 48-jährige Architektin Babette Reimers, „natürlich bleibt die Frage, ob so eine hochgradige Unprofessionalität nötig war.“ Sie wiederholt noch einmal, was sie schon zuvor, früher am Abend, bei der Aussprache im SPD-Versammlungssaal gesagt hat.

Dass es ein riesiger Fehler war, hieß es dort, ausgerechnet das Fass auf- und sich zum Gespött der Republik zu machen in einer Zeit, in der die SPD gerade wieder in ruhigem Fahrwasser angelangt zu sein schien.

Was hatten die Partei- und Regierungsspitzen ihren Mitgliedern vor Ort nicht alles zugemutet im vergangenen halben Jahr! Erst die vergeigte Wahl in Nordrhein-Westfalen. Die Neuwahldiskussion. Schröders peinliche Vertrauensfrage im Bundestag. Der deprimierende Wahlkampf, in Brandenburg nicht bloß gegen die CDU, sondern vor allem gegen die Linkspartei und die extreme Rechte, die vom Unmut über die rot-grünen Sozialreformen profitiert hatten. Und dann: ein wider Erwarten respektables Wahlergebnis für die SPD und schließlich Koalitionsverhandlungen mit der CDU, in denen die SPD täglich zu punkten schien. Und jetzt das!

„Es war ungeheuerlich, den Müntefering in einer solchen Diskussion auszubremsen“, schimpft auf der Versammlung ein distinguierter älterer Herr im Anzug und mit Goldbrille, dem man einen solchen Gefühlsausbruch gar nicht zutrauen würde. „Wir sind nicht nur beschämt, sondern auch in Erklärungsnot gegenüber den Leuten, wenn wir sagen, wir sind in der SPD.“ Den Wählern sei nach dem Zickzackkurs der letzten Monate nicht mehr vermittelbar, weswegen sich die SPD ohne Not erneut selbst in die Krise stürze.

Darüber sind sich alle in der Babelsberger SPD einig. Ja, mehr noch: Diesmal haben sie schlicht keine Lust mehr, den angerichteten Schaden vor Ort im Gespräch mit den Bürgern auszubügeln. Wie sollten sie auch – wo sie doch selbst der Verzweiflung nahe sind.

Ausgerechnet sie, die wortgewandten Mitglieder eines normalerweise florierenden, expandierenden und vor Optimismus strotzenden Ortsvereins, der nun wirklich nicht zu den gebeutelten im Land Brandenburg gehört, ihnen verschlägt es jetzt die Sprache. Wohnungsleerstand, demografische Krise, Bildungskatastrophe und Arbeitslosigkeit, das waren alles Probleme, die fernab ihrer Haustür auftauchen mochten und über die die Babelsberger Sozialdemokraten auf hohem akademischem Niveau trefflich räsonnieren konnten. Jetzt aber sind sie – unverschuldet! – selbst mitten in die Krise hineingeraten, sind zu Betroffenen geworden. Wegen ihrer eigenen Parteiführung.

Da jammert plötzlich der gestandene Ministerialdirigent Norbert Potthast, 47 Jahre: „Wo soll’s denn jetzt hingehen? Wir haben überhaupt keine Perspektive mehr!“ Da entsetzt sich der Bauunternehmer Wolfhard Kirsch, 43 Jahre: „Ich finde es faszinierend, was in unserer Partei an Zeit verblasen wird mit Diskussionen. Überlegt doch mal: wenn das ein Wirtschaftsunternehmen wäre!“

Da ringt Ingo Decker, 39 Jahre, im Hauptberuf Pressesprecher des brandenburgischen Finanzministeriums, um Worte und bringt schließlich hervor: „Die Nahles ist erst mal einen Kopf kürzer gemacht, gut. Aber sie ist nicht weg. Was, wenn der Knüppel aus den eigenen Reihen uns wieder zwischen die Beine geworfen wird? Dann haben wir bei der nächsten Bundestagswahl nicht nur eine Links-, sondern auch eine Rechtspartei und die SPD minus zehn Prozent.“

Die Schuldfrage klären die Babelsberger Sozialdemokraten an diesem Donnerstag schnell und eindeutig für sich. Hätten sie die Wahl des Generalsekretärs entscheiden müssen, dann hätte Franz Müntefering sich bestimmt nicht zum Rücktritt gezwungen gesehen. Sicherlich, der autoritäre Parteiführungsstil, von Gerhard Schröder eingeführt und dann von Franz Müntefering fortgesetzt, sei weder nachahmens- noch empfehlenswert. „Aber wie kann man einem Parteivorsitzenden so in die Parade fahren“, schimpft Norbert Potthast, jetzt wieder etwas gefasster.

„Wie kann die Nahles so profilierungssüchtig sein“, ruft jemand dazwischen. „Der schwarze Peter ist natürlich der roten Heidi zuzuschieben“, ereifert sich schließlich noch einmal Wilhelm Marquardt. „Hätte die Pattex-Heidi den Vorsitz freigemacht, dann hätte die Nahles niemals als Generalsekretärin kandidiert und wir müssten nicht unseren besten Mann nach Berlin schicken.“

Es ist ja nicht nur die Angst, Matthias Platzeck in Brandenburg perspektivisch ganz zu verlieren und damit sicherlich auch Stimmen für die SPD einzubüßen. Auf dem Spiel, sagt die Architektin Babette Reimers, stehe der Ruf eines ganzen Landes. „Guckt euch nur mal die ausländische Presse an“, klagt sie, „da könnt ihr nachlesen, die Deutschen sind abgetaucht, es wird seit einem halben Jahr nicht mehr regiert“.