Nach dem kollektiven Glückstaumel

Was von der sandinistischen Revolution in Nicaragua geblieben ist: Kristina Konrads Dokumentation „Unser America“

Mitte der Achtzigerjahre lebte die Schweizer Filmemacherin Kristina Konrad in Nicaragua. 1979 hatten die Sandinisten den Diktator Somoza ins Ausland gejagt, ein Jahr später hatten sie ihre Alphabetisierungskampagne begonnen und eine Landreform angestoßen, noch einmal zwei Jahre später war der Bürgerkrieg da. Von den USA erhielten die Truppen der Contra großzügige Unterstützung, zugleich kamen viele aus Europa, Kanada und den USA, um die Revolution zu unterstützen, indem sie Schulen bauten oder Kaffee pflückten. „Nicaragua“, sagt die heute 51 Jahre alte Konrad, „war das Vietnam meiner Generation.“ Der Bürgerkrieg dauerte bis 1989, an seinem Ende gab es keine Familie, die nicht mindestens einen Angehörigen verloren hätte. 1990 wählten die Nicaraguaner eine Mitte-rechts-Koalition unter Führung Violeta Chamorros.

Vor kurzem kehrte Konrad in das mittelamerikanische Land zurück, um zu erkunden, was von der sandinistischen Revolution geblieben ist. Entstanden ist dabei die Dokumentation „Unser America“. Am Anfang der Spurensuche steht das Schwarz-Weiß-Foto zweier junger Frauen, die als Teenager gegen die Contra kämpften, außerdem ein Filmausschnitt, in dem die beiden vorkommen. Das Foto klemmt auf dem Armaturenbrett von Konrads Jeep und spiegelt sich in der Windschutzscheibe, sodass die vielen Aufnahmen, die während der Autofahrt entstehen, das heutige Nicaragua durch die Spiegelung des früheren Nicaraguas hindurch einfangen. Konrad begegnet Menschen wie Francisco Ramírez, einem Kellner im Hotel Intercontinental in Managua, der den Mangel an Benehmen und Stil bei den Sandinisten beklagt, oder Herty Lewites, einem Sandinisten, der bis vor kurzem Bürgermeister Managuas war. Schließlich findet sie auch die beiden Frauen: Ana Cecilia Rojas verkauft heute Avon-Kosmetik, Magaly Cabrera arbeitet als Anwältin.

Es geht „Unser America“ nicht darum, die Frente Sandinista einer kritischen Revision zu unterziehen. Nach 1990, sagt Konrad einmal aus dem Off, habe es in der Partei Korruption gegeben –das klingt, als sei vorher alles in bester Ordnung gewesen. Wer eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den Sandinisten sucht, wird in „Unser America“ nichts finden. Stattdessen geht es Konrad um die Euphorie, die Aufbruchstimmung – um das, was sie in Anlehnung an Gilles Deleuze das „Revolutionärwerden der Menschen“ nennt. In Nicaragua griffen Menschen in den Gang der Geschichte ein, die weder lesen konnten noch genug zu essen hatten, die unter einer korrupten Justiz und nicht existenter medizinischer Versorgung litten. Dass sie die Zeitläufte nicht mehr ertragen, sondern gestalten wollten, schuf einen kollektiven Glückstaumel. Im heutigen Nicaragua findet Konrad davon nur wenig – vielleicht in den lebendigen Augen Herty Lewites’ oder in der emanzipierten Selbstverständlichkeit, mit der Magaly Cabrera ihrer Arbeit nachgeht. So bleibt ihr der melancholische Blick auf das, was war und heute nicht mehr ist.

Das verhindert leider einen präzisere Erkundung des Landes heute, zumal sich Konrad etwas verzettelt: Mal spielt sie Archivbilder eines Schweizer Internationalisten ein, der von der Contra ermordet wurde, mal filmt sie ein Mädchen, das Gedichte von Rubén Darío rezitiert; als Kitt zwischen den disparaten Sequenzen funktionieren die langen, vom Beifahrersitz gefilmten Einstellungen auf die vorbeiziehende Landschaft kaum. Wer etwa die Gelegenheit hatte, auf der letzten Berlinale Mercedes Moncada Rodríguez’ formal dichten Dokumentarfilm „El Inmortal“ zu sehen, der erkundet, wie der Bürgerkrieg noch heute das Leben in einem Landstrich im Norden Nicaraguas prägt, dem wird „Unser America“ nicht reichen. CRISTINA NORD

„Unser America“. Regie: Kristina Konrad, Dokumentarfilm, Schweiz/ Deutschland 2005, 84 Min., in den Kinos Eiszeit, Hackesche Höfe, Lichtblick