Welche Vergangenheit darf es denn sein?

„Beyond Memory“: Junge deutsche und israelische Doktoranden loteten auf einer Tagung die Möglichkeiten einer gemeinsamen Erinnerung aus

Können sich junge Deutsche und Israelis unproblematischer miteinander über die Shoah verständigen als mit ihren Eltern? Auf einer Tagung des deutsch-israelischen Jugendaustausches in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück vor zwei Jahren schien das der Fall zu sein. Was lag damit näher, als einmal im Rahmen einer internationalen Arbeitsgruppe nach gemeinsamen Wegen einer Erinnerung zu suchen?

Im April dieses Jahres trafen sich elf israelische und 15 deutsche Studenten, Doktoranden und Journalisten zu einem ersten dreitägigen Kennenlerntreffen in Jerusalem. Unter dem zukunftsfreudigen Titel „Beyond Memory“ stellte die in der vergangenen Woche zum zweiten Mal zusammengetroffene Arbeitsgruppe die Ergebnisse ihrer Diskussionen im Rahmen einer öffentlichen Konferenz an der Berliner Volksbühne vor. Doch von einem gemeinsamen Reflexionsprozess war nur wenig zu spüren – immer wieder, immerhin ein lehrreiches Ergebnis, stieß man auf Trennendes.

Denn anders, als es die meisten deutschen Teilnehmer der Arbeitsgruppe erwartet hatten, stellten die jungen Israelis zur Diskussion, dass auch die individuelle Erinnerung sich mit einem kollektiven Identitätsbegriff und einem Bezug zur eigenen Herkunft verbinden müsse. Rückblickend bewertete der Sozialpädagoge Jonathan Davidov aus Haifa das erste Jerusalemer Treffen nun sogar mit eher gemischten Gefühlen: „Ich konnte über Dinge reden, die für meinen Vater tabu waren, konnte Witze machen und von Deutschen als Opfern hören. Damit aber zu meinem Vater zurückzukehren war nicht so einfach. Wir reden hier über Erinnerung, aber diese Erinnerung ist nicht unsere persönliche.“

Gerade die scheinbar unvoreingenommene Gesprächsbereitschaft der Deutschen erschien den jungen Israelis dabei nicht immer ganz geheuer: „Plötzlich war ich genervt davon, dass die Deutschen offenbar nicht verstehen, was Trauer ist. Wir begreifen nicht, um wen sie hier eigentlich trauern. Wenn, dann sollten sie bei ihrer eigenen Vergangenheit anfangen anstatt bei unserer“, meinte die Studentin Nirit Bialer aus Tel Aviv. Das kam für die Mainzer Doktorandin Karolina Rakoczy überraschend: „Ich hatte es für selbstverständlich gehalten, dass es notwendig wäre, mit den Israelis zu reden.“ Doch für Jonathan Davidov war das weniger selbstverständlich: „Ich möchte nicht ein Teil der deutschen, sondern meiner eigenen Normalisierung sein.“

Aus anderer Perspektive wollte auch Zemert Hershko vom Frauennetzwerk Isha le-Isha aus Haifa eher die innerisraelischen Probleme in den Blick nehmen: „Die Shoah ist ein Werkzeug des israelischen Establishments geworden, um eine einheitliche israelische Identität zu erzeugen.“ Wie solche offizielle Identität entsteht, erläuterte Alma Lessing von der Jerusalemer Hebrew University am Gedenkkalender des Staates Israel. Hier seien das Shoah-Gedenken und das zyklische wie zeitlose Kontinuum der religiösen Feiertage in einem gemeinsamen Bezugsrahmen miteinander verzahnt worden.

Der Anthropologe Jackie Feldman aus Beer Sheva versuchte daher, die Macht der individuellen Gefühle als das Resultat von kultureller Vermittlung und damit auch als etwas kritisch Hinterfragbares zu beschreiben: „Trauer beginnt nicht in einem selbst, sondern wird durch äußere kulturelle Formen vermittelt, die etwas wie Verlust erst spürbar werden lassen.“ Doch Feldmans Analyse beinhaltet eben auch die Kränkung, sich von authentisch erlebten Gefühlen als etwas gesellschaftlich Erzeugtem distanzieren zu müssen.

Das wird auch der deutschen Vergangenheitsbewältigung sicherlich nicht schaden. So wies die zur abschließenden Podiumsdiskussion geladene Berliner Schriftstellerin Tanja Dückers auf eine sich unhinterfragt etablierende Eintracht zwischen den Generationen hin: „Dieselben Leute, die bei uns früher als Tätergeneration bezeichnet wurden, heißen heute Zeitzeugen.“

Was blieb bei alledem noch vom deutsch-israelischen Dialog der jüngeren Generation übrig? Karolyna Rakoczy fasste es so zusammen: „Wir können mit den anderen als einem Spiegel kommunizieren, aber in unseren jeweiligen Antworten bewegen wir uns nicht auf einer gemeinsamen Ebene.“ JAN-HENDRIK WULF