Sehnsucht nach Welt

Der genau beobachtete Alltag war lange Zeit der Glutkern des Dokumentarfilms – nun scheint er eher dessen große Leerstelle zu werden. Gemischte Eindrücke von der Dokumentarfilmwoche in Duisburg

VON STEFAN REINECKE

Wir haben in der Postmoderne gelernt, den Bildern der Wirklichkeit gehörig zu misstrauen. Alles ist Text, Konstruktion, Erzählung, die Wirklichkeit ist ein Trugbild.

Diese zur Binsenweisheit geronnenen Erkenntnisse – und die digitale Bildtechnik – haben das Dokumentarische radikal verändert. Wenn alle Bilder Erfindungen sind, die mit digitaler Technik im Handumdrehen zu manipulieren sind, dann verändert sich der Blick darauf. Wir sehen im Wirklichen vor allem das Inszenierte, Konstruierte.

So ist das. Oder: So war es. Der postmoderne Dokumentarfilm provoziert ein Unbehagen, eine heftige Sehnsucht nach Welt und Erfahrung. „Dekonstruktion und filmische Selbstreflexion machen mich nicht satt. Ich will sehen, Welt erfahren“, so die Filmwissenschaftlerin Heide Schlüpmann in einem mit dem Journalisten Michael Girke bei der diesjährigen Duisburger Dokumentarfilmwoche vorgetragenen klugen Grundsatzdiskurs. Schlüpmann und Girke plädieren für einen Dokumentarfilm, der die postmodernen Metadiskurse abschüttelt und sich wieder der physischen Realität öffnet. Damit knüpfen sie direkt an Siegfried Kracauers schon oft und voreilig beerdigte „Theorie des Films“ an. Kracauer definiert das Kino als Ort, an dem das Konkrete, Nebensächliche gegen die Zwänge der Abstraktion und großen Erzählungen verteidigt wird. Die Wirklichkeit, schrieb Kracauer 1960, scheint kaum noch mit den Fingerspitzen berührbar zu sein. Weil diese Diagnose noch gilt, ist auch Kracauers Versuch, das dokumentarische Bild als Rettungsort der Dinge und des Randständigen vor dem Klammergriff der Ideen zu beschreiben, noch aktuell.

Doch wer in Duisburg mit Kracauer im Hinterkopf manche Filme anschaute, den mochte eine gewisse Verzweiflung heimsuchen. Es herrschte viel Ideenkino, meist überambitioniert wie Viola Stephans verschraubter Versuch, mit „The Making of“ Hirnforschung zu bebildern. Oder Robert Bramkamps gezwungen origineller „Der Bootgott vom Seesportclub“, in dem das Porträt eines Bootsclubs in Brandenburg mit mythologischem Sinn aufgeladen wird. Alexandra Sells Porträt der rheinländischen Provinz zwischen Köln und Bonn „Durchfahrtsland“ geht an billiger ironischer Distanz zu ihren Figuren und literarisierenden Off-Texten zugrunde.

Selten war in Duisburg so viel formal Überanstrengtes und inhaltlich Bleiches zu sehen. Der genau beobachtete Alltag, der lange der Glutkern des Genres war, scheint dessen große Leerstelle zu werden. Die hiesige Wirklichkeit jedenfalls war in vielen Filmen kaum mit den Fingerspitzen zu berühren.

Am ehesten gelingt dies Romuald Karmakar, der in „Between the devil and the wide blue sea“ Elektropopkünstler wie T. Raumschmiere bei Auftritten zeigt. Dies ist eine klassische dokumentarische Situation: Menschen bei der Arbeit zuzusehen. Karmakar führt Künstlerkörper vor Augen, die schwitzen, tanzen und doch wundersam kontrolliert ihre Apparate bedienen – ein Balanceakt zwischen Selbstentäußerung und -beherrschung. Karmakar arbeitet mit einer Kamera und ohne Schnitte. Diese radikale Anti-Clip-Ästhetik und der hämmernde Sound bewirken eine Intensivierung des Blicks. Karmakar will zeigen, nicht fiktionalisieren, nichts beweisen. Bei Kracauer heißt es, dass „Filme sich selbst treu sind, wenn sie physische Realität wiedergeben und enthüllen“, anstatt sie mit Ideen zu verdecken. So arbeitet Karmakar.

Die intensivsten, auch schwierigsten Filme widmeten sich Phänomen jenseits hiesigen Alltags: dem Gewaltexzess, dem Kriegsverbrechen. „Massaker“ von Lokman Slim, Monika Borgmann und Hermann Theißen zeigt einen abgedunkelten Raum, eine Wohnung in Beirut. Man sieht die Hände, Körper, Füße, Gesten von sechs Männern, nie ihre Gesichter. 1980 haben sie in Sabra und Schatila als Angehörige der christlichen Miliz palästinensische Kinder, Frauen, Männer und Greise abgeschlachtet. Sie reden zum ersten Mal, anonym, aus Angst vor Rache.

Reue empfindet niemand. Einer scheint stolz, dass er seine Opfer leibhaftig mit dem Messer schlachtete, um ihre Todesangst zu steigern. Ein anderer klammert sich verkrampft ans Whiskeyglas. Aber das bleiben Indizien im Halbschatten. Was diese Männer vor die Kamera treibt, ob Angeberei oder Scham, bleibt unscharf. Zwar kommt in „Massaker“ auch der Drill der Soldaten zur Sprache, also die Vorgeschichte und Logistik der Gewaltexplosion. Aber richtig hell wird es hier nie. Der Firnis der Zivilisation ist dünn – und darunter ein Abgrund in jedem Menschen. So will „Massaker“ es wohl nicht erzählen. Aber genau das tun diese verschatteten Bilder.

Viel komplexer und genauer argumentiert „Weiße Raben“ von Johann Feindt und Tamara Trampe, eine ungemein wuchtige Beschreibung junger russischer Soldaten, die als Wracks aus Tschetschenien wiederkommen. Das emotionale Kraftzentrum ist der Blick der Mütter auf ihre zerschossenen, neurotischen Söhne. Feindt/Trampe scheuen auch melodramatische Montagen nicht. Einer hat, brutalisiert durch den Krieg, Kinder sexuell missbraucht und wird zehn Jahre im Knast verbringen. Wir schauen in die ratlosen Gesichter seiner Mutter, seiner Freundin. Und sehen Kinderfotos von ihm. Unschuld und Schuld, scharf kontrastiert. „Weiße Raben“ ist ein Trauergesang, eine Art dokumentarisches Pendant zu „The Deer Hunter“. Der Riss zwischen dem Krieg und dem zivilen Alltag bleibt unheilbar.