Ich glotz‘ TV!

Fernsehen kann so schön sein, so schlau und so lehrreich. Zum Beispiel, wenn es sich der Historie zuwendet, ohne in Hitler-Arien zu verfallen: Während der NDR die Geschichte seines Sendegebiets erzählt, schaut das ZDF auf die Kolonialzeit. Und auf ihre norddeutschen Protagonisten

von Jan Freitag

Na, da hat sich der NDR aber mal richtig Mühe gegeben. Einmal Einbeck, zweimal Haitabu, dreimal Rostock, viermal Lübeck – akribisch listet das Dritte Programm im Begleitheft seiner Dokumentation „Die Geschichte Norddeutschlands“ alle Drehorte auf. Und die Detailtreue, mit der vom idyllischen Ahlden bis zum kühlen Wolfsburg jeder noch so kleine Arbeitsplatz der Filmteams belegt wird, lässt auf eine Sorge der Verantwortlichen schließen: Bloß nicht immer Hamburg! Stellt doch allein die Hansestadt, viertwichtigster Filmset Europas und noch immer bundesweit bedeutendster Medienstandort, fast ein Fünftel aller Schauplätze des ehrgeizigen Historytainment-Projektes. Ab 15. November ist es an sechs Dienstagen auf N3 zu sehen.

Hamburg, Hamburg und nochmals Hamburg: Wer alle Teile der unterhaltsamen wie lehrreichen Zeitreise von den ersten Siedlungsspuren bei Braunschweig bis zum Mauerfall bei Helmstedt sieht, kann sich dennoch des Eindrucks kaum erwehren, norddeutsche Geschichte spielte sich maßgeblich an der Außenalster ab. Das ist natürlich Quatsch, keinesfalls das Ziel der Autoren, aber irgendwie auch naheliegend. Oder wie viele schillernde Großstädte gibt es im Norden abseits der Elbmetropole? Umso schöner, dass es Ingo Helm und Christoph Weinert trotzdem geschafft haben, in ihrer Arbeit wirklich das ganze Spektrum historisch folgenreicher Ereignisse der vergangenen 400.000 Jahre zwischen Halligen, Harz und Stettiner Haff aufzuzeigen. Ingo Helm, verantwortlich für die Folgen 1, 2 und 6, berichtet nur zu gern von einer Landkarte, die sein Team zu Beginn der Arbeit markierte. „Wir haben schon aufgepasst, dass keine Gegend unterrepräsentiert wird.“

Am Ende steckten 147 Stecknadeln an der Wand. Und jede erzählt große Geschichte oder kleine Anekdoten. Das Ganze, wie es sich in dem Genre mittlerweile gehört, mit Animationselementen, Zeitzeugen und Nachstellungen gespickt. Aber immer eine Spur unaufdringlicher als etwa die beliebten Urzeit-Dokus auf Pro Sieben oder die unsäglichen Hitlerarien eines Guido Knopp. Das durchgängige Prinzip lautet: Personalisierung.

Da jagt ein Homo Erectus namens Erec im späteren Niedersachsen bei Schöningen mit dem weltweit ältesten erhaltenen Wurfspeer Rentiere. Da beweist ein fiktiver Slawomir nach der Christianisierung im späteren Mecklenburg seinen Geschäftssinn. Da eint Sachsenfürst Widukind die norddeutschen Stämme gegen Karl den Großen. Da zeigt Hein von Bruck, ein erdachter Tagelöhner, die sozialen Schattenseiten der Hanse. Da eröffnet die Parchimerin Catrina Zeleke nach dem 30jährigen Krieg auf dem Scheiterhaufen die Hexenverfolgung. Da versorgt Konditor Johann Heinrich Niederegger Lübeck mit Marzipan. Da fällt der jüdische Anwalt Friedrich Schumm gleich nach der Machtergreifung in Kiel den Nazis zum Opfer. Da gibt Uwe Barschel sein Ehrenwort – und bezahlt es mit dem Leben.

Viele tausend Jahre im 270minütigen Schnelldurchlauf. Ohne zu holpern, zu überladen oder allzu Wesentliches auszulassen. „Wir sind unvollständig“, räumt NDR-Kulturchef Thomas Schreiber gelassen ein und sein Autor Christoph Weinert erläutert, warum das auch so sein muss: „Wir erzählen lieber fünf gute Geschichten einer Epoche als lückenlos und enzyklopädisch.“ So funktioniert visualisierte oral history. Für erweiterten Wissensdurst empfiehlt Weinert das dicke Begleitbuch aus eigener Feder. Geschäftstüchtig, der Experte fürs Kreative.

Doch das beweist er mit diesem Projekt ohnehin. Denn Lokalpatriotismus ist eine quotenbringende Konstante des Fernsehens. Der MDR etwa erntet für seine vielteilige Geschichte Mitteldeutschlands viel Zuspruch. Auch der Bayerische Rundfunk arbeitet den Freistaat dokumentarisch auf. Und der WDR plant ein ähnliches Projekt für den Westen. Laut Rundfunkstaatsvertrag sind die Landessender schließlich zur Befriedigung regionaler Informationsbedürfnisse verpflichtet. Thomas Schreiber spricht in dem Zusammenhang von „einer norddeutschen Identität“, der sich selbstredend auch der NDR verpflichtet fühle.

Falsch verstandene Heimatliebe führt zwar in der „Geschichte Norddeutschlands“ zu den einzigen Schwächen. Wenn zum Beispiel Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland das Lied der Deutschen dichtet und ein Brei aus Nationalstolz und Haydn in die nachgestellte Szene fließt. Oder wenn die Nachkriegszeit fast nur aus armer DDR besteht und die vaterlandslosen 68er zu Spinnern werden. Doch nach derlei Ursprungspathos dürstet es das TV-Volk so offensichtlich, dass man sich die harmlosere Variante lobt: Lokalpatriotismus. Der, so belegt eine frische Studie des Allensbach- Instituts über die ARD-Serie „Tatort“, ist eben ein Motor des Fernsehens an sich und Lokalkolorit sein Treibstoff.

Gut 35 Jahre, nachdem NDR-Kommissar Trimmel in „Taxi nach Leipzig“ den ersten Tatort betrat, sind seine Kollegen dort am beliebtesten, wo sie auch Mörder jagen. Das Duo Leitmayr/Batic etwa bevorzugen im heimischen Bayern 43 Prozent der Zuschauer, im Norden davon gerade mal die Hälfte. Und während es der NDR-Kriminalist Castorff bundesweit nur auf neun Prozent Zuspruch bringt, zählt er an der Küste zu den beliebtesten Ermittlern. Wie wichtig regionale Untertöne für Eingeborene sind, beweisen zwei Serien von der großen Insel.

Wenn auf Rügen die ZDF-Tierschnulze „Hallo Robbie“ oder eines der vielen Beispiele innerdeutscher Migrationsformate wie „Ein Bayer auf Rügen“ gedreht werden, läuft die Lokalpresse vor Gefälligkeitsberichten schier über. Und die N3-Nachrichtenmagazine aus Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg erreichen vor der Tagesschau (aus Hamburg) zusammen spielend 20 Prozent Sehbeteiligung.

Dass das alles nichts gegen Hamburg ist, Schauplatz für Filme von Fatih Akin, Otto Waalkes und Helmut Dietl über Endlosreihen wie Edgar Wallace oder Großstadtrevier bis hin zu James Bond, muss man ja nicht ständig neu durchkauen. Dafür zeigt „Die Geschichte Norddeutschlands“, woher die ältesten Radspuren der Welt stammen: aus Flintbek bei Kiel. Und als Schleswig eine Art mittelalterliche Megacity war, grasten im Herzen Hamburgs noch Kühe.

Die Geschichte Norddeutschlands, sechs Folgen, ab 15. 11., jeweils dienstags, 22.15 Uhr, NDR