DER EU-BERICHT ZUR TÜRKEI IST EIN ARMUTSZEUGNIS FÜR BRÜSSEL
: Die Reue kommt zu spät

EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn hat gestern noch einmal betont, dass die Türkei die Grundvoraussetzungen für Beitrittsverhandlungen erfülle. Von Fortschritten allerdings kündet der neue Fortschrittsbericht seiner Abteilung nicht. Hilfreich ist, die Vorgeschichte in Erinnerung zu rufen: Vor genau einem Jahr bescheinigte die damalige EU-Kommission unter Romano Prodi der Türkei, fit für Verhandlungen zu sein. Die Kopenhagener Kriterien, die Mindeststandards bei der Wahrung der Menschenrechte verlangen, seien erfüllt.

Wäre der Bericht damals strenger ausgefallen, hätten die Beitrittsverhandlungen nicht am 3. Oktober beginnen können. Eine Denkpause, die allen Beteiligten gut getan hätte – vor allem der Türkei selber. Doch damals hat die EU-Kommission davor zurückgescheut, das Stoppschild hochzuhalten, hinter dem sich dann die Regierungschefs hätten versammeln können.

Alles, was im gestern vorgelegten Fortschrittsbericht beklagt und angemahnt wird, lag auch vor einem Jahr schon auf dem Tisch. Doch damals wurden die Fakten als optimistische Anfänge gedeutet, die in die richtige Richtung weisen. Die Beitrittsperspektive, so das Kalkül, werde die fortschrittlichen Kräfte stützen und den Weg des Landes hin zu einer modernen Demokratie beschleunigen. Heute interpretiert die Kommission die gleichen Fakten ernüchtert. Statt Beschleunigung seien in vielen Bereichen Stillstand und sogar Rückschritt zu verzeichnen. Nur die Wirtschaftsentwicklung bewertet Brüssel positiv. Daraus spricht die Enttäuschung, dass der Vorschuss von Ankara nicht genutzt wurde. Im Gegenteil: Nun, da der Beitrittsprozess begonnen hat, scheinen die reaktionären Kräfte im Land wieder stärker zu werden.

Von der Anklage gegen den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk fühlt sich Brüssel regelrecht provoziert. Doch die Reue kommt zu spät, einen Weg zurück gibt es nicht. Mit schlechten Zensuren kann die Kommission den Prozess nun noch verlangsamen, stoppen kann sie ihn nicht mehr. Mit Vorschüssen sollte Brüssel in Zukunft also zurückhaltender sein. DANIELA WEINGÄRTNER