Kein Baum, kein Glück

„Kollaps“: Jared Diamond geht den Ursachen gesellschaftlicher Zusammenbrüche nach, universalgeschichtlich und faktenreich

VON RUDOLF WALTHER

Warum brechen Gesellschaften zusammen? Warum überleben andere Gesellschaften? Das Buch des amerikanischen Geografieprofessors Jared Diamond unterscheidet sich grundsätzlich von reißerischen Bestsellern, die abwechselnd das Aussterben der Mitteleuropäer, die Vergreisung der Deutschen oder den Wämetod der Welt voraussagen. Es ist ein ruhiges und sachlich argumentierendes Buch, das nicht einen einzigen Trend verabsolutiert oder voreilige Analogieschlüsse zieht. Zweierlei bewahrt Diamond vor solchen Kurz- und Schnellschüssen.

Erstens legt er seine Studie universalgeschichtlich an, er orientiert sich also nicht an ein paar Zahlenreihen über die Temperaturentwicklung, sondern untersucht minutiös, warum etwa der Zusammenbruch der blühenden Kultur auf der Osterinsel im Pazifik um das Jahr 1500 begann oder das Ende der Gesellschaft der Anasazi im heutigen US-Bundesstaat New Mexico zwischen 1150 und 1200. Zwar bergen solche Vergleiche auch die Gefahr unzulänglicher Gleichsetzungen, aber viel stärker fällt ins Gewicht, dass interkulturelle und universalgeschichtliche Vergleiche Einseitigkeiten und Vereinfachungen vorbeugen.

Zweitens, und das ist der größte Vorzug der Analyse, bedient sich Diamond naturwissenschaftlicher Methoden und spekuliert nicht freihändig im Stil von Apokalypse- und Untergangspredigern über die Gründe für den Zusammenbruch von Gesellschaften. So lässt zum Beispiel die wissenschaftliche Methode zur Bestimmung des Alters von Bäumen, die Dendrochronologie, anhand der Stärke der Jahresringe von Bäumen präzise Rückschlüsse zu auf die Niederschlagsmengen und deren Auswirkungen auf das Klima.

Die Analyse des zeitlich weit zurückliegenden Untergangs von Gesellschaften im Pazifik, in Nord- und Mittelamerika und in Grönland sowie die Untersuchung zeitgenössischer Gesellschaftszusammenbrüche in Ruanda und Haiti zeigen, dass es niemals und nirgends ein Faktor war, der den Kollaps bewirkt hat. Es gibt, wie Diamond belegt, „keinen einzigen Fall, in dem man den Zusammenbruch einer Gesellschaft ausschließlich auf Umweltschäden zurückführen könnte“. Wichtig ist immer auch die politische Reaktion der Elite eines Landes und der Gesellschaft auf Umweltschäden, Klimaveränderung, Bevölkerungswachstum, Armut und Reichtum. Einen „Umweltdeterminismus“, der den Untergang der Maya-Kultur allein auf die Abholzung der Wälder zurückführt, hält Diamond für ebenso naiv wie absurd.

Diamond breitet ein riesiges Material an Fakten aus. Am Beispiel des US-Bundesstaates Montana etwa lässt sich erkennen, was passiert, wenn eine traditionelle Ressource verschwindet. Im Bergbau in Montana gab es 20.000 Minen. Die meisten sind heute geschlossen. Geblieben sind riesige Mengen von Giftmüll und schwermetallverseuchten Staubecken und Gewässern. Die Beseitigung der Folgeprobleme des Bergbaus kostet Milliarden, die die Restbevölkerung, die von Viehzucht, Ackerbau und Holzverwertung lebt, stark belastet. Geringer werdende Niederschläge haben die Waldbrandgefahren drastisch erhöht und die herrschende Wasserknappheit verschärft. Denn seit den 90er-Jahren blüht ein Rentnertourismus, der reiche Kalifornier nach Montana bringt. Der Zweitvillenbau und die Anlage von Golfplätzen (Aufnahmegebühr 125.000 Dollar) treibt die Grundstückpreise in die Höhe. Zur Bewältigung der Altlasten tragen die Zugewanderten nichts bei, weil sie weniger als 180 Tage in Montana verbringen und deshalb keine Steuern zahlen.

Montana ist natürlich kein Beispiel für eine Gesellschaft kurz vor dem Zusammenbruch. Aber Diamond zeigt, welchen Sprengstoff das komplexe Zusammenspiel von ökologischen und ökonomischen Problemen, von Zuwanderung und politischer Polarisierung der Bevölkerung birgt. Wenn sich Elite und Bevölkerung weigern, die Probleme wahrzunehmen und nach Lösungen zu suchen, sieht die Zukunft beider schwarz aus.

Die Chance, Probleme zu erkennen und nach Alternativen zu suchen, hatten viele Gesellschaften nicht, wobei man die Gründe oft nur fragmentarisch rekonstruieren kann, weil es keine schriftlichen Zeugnisse, sondern nur archäologische Befunde gibt. Diese interpretiert Diamond. Auf der Osterinsel im Pazifik zum Beispiel lebten einmal 15.000 Menschen. Als der Holländer Jacob Roggeveen 1722 dort ankam, waren es noch einige hundert, 1872 noch 111. „Ein Extremfall von Waldzerstörung“ (Diamond), der außer wirtschaftlichen auch kultische Gründe hatte. Davon zeugen die 397 vier bis sechs Meter hohen Steinstatuen – ein von den UN geschütztes Weltkulturerbe. Die Abholzung, etwa auch für den Transport der Säulen auf Baumschlitten, löste eine tödliche Kettenreaktion aus. Da die Menschen mangels Holz bald keine Schiffe mehr bauen konnten, überfischten sie die Uferregion und überjagten das Land. Nachdem alle Bäume gefällt waren, erodierte der Boden, worauf Wasser knapp wurde. Am Ende standen Clan-Kriege, Hunger und Durst.

Im Jahr 793 nach Christus kamen die Wikinger aus Norwegen über Island nach Grönland, wo sie sich trotz widriger Bedingungen und dank großer Disziplin 450 Jahre halten konnten. Die Gesellschaft wurde zusammengehalten durch eine Elite starker Häuptlinge und den christlichen Glauben. Im Unterschied zu den eingeborenen Inuit, die als Sammler und Jäger lebten, brachten die Wikinger die Viehzucht ins Land, an der sie auch festhielten, als das Klima im Winter kälter wurde und die Heuproduktion im Sommer karger ausfiel. Mit dem Erlös aus dem Export von Schafwolle finanzierte die Elite den Import von Luxusgütern und farbigem Glas für die Kirchen. Die Wikinger weigerten sich auch angesichts der Kältewelle, ihre Lebensweise derjenigen der Inuit anzupassen. Die Autorität der Häuptlinge und der Geistlichkeit zerfiel, als eine Hungersnot ausbrach, und den Machthabern blieb nur „das Recht, als letzte zu verhungern“ (Diamond), nachdem der Kontakt zu Norwegen abbrach und keine seetauglichen Schiffe zur Verfügung standen. „Das kurzfristige Interesse der Machthaber“ – so Diamond – siegte über „die langfristigen Interessen der Gesamtgesellschaft“.

In den beiden letzten Kapiteln des Buchs beschäftigt sich Diamond mit der Frage, was aus der Geschichte des Zusammenbruchs unterschiedlicher Gesellschaften aus unterschiedlichen Gründen zu lernen sei. Das differenzierte Fazit der Autors, der sich als „vorsichtig optimistisch“ versteht: „Da wir selbst die Ursachen unserer ökologischen Probleme sind, können wir sie auch beeinflussen.“

Jared Diamond: „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005, 684 Seiten, 24,90 Euro