Elektrische Himmelfahrt

Eine Hommage an die Kraft des Free Jazz: Eine neue Musikergeneration spielte beim „Unlimited“-Festival im österreichischen Wels den John-Coltrane-Klassiker „Ascension“

Das Sakrale des Originalsscheint auf – zugleich fügt dieElektronikfraktion dem Stück aber auch ganz neue Seiten hinzu

Für Larry Ochs, Mitglied des Rova Saxophone Quartets und dieses Jahr Kurator des traditionsreichen „Unlimited“-Festivals im oberösterreichischen Wels, ist die Sache klar: Wie jedes Jahr um Weihnachten die 5. Sinfonie von Beethoven gespielt werde, müsse man auch „Ascension“ von John Coltrane als Klassiker regelmäßig aufführen. Gemeint ist jenes himmelwärts gerichtete Großensemble-Improvisation, mit der Coltrane 1965 endgültig zum freien Jazz konvertiert war – fünf Jahre nach Ornette Colemans ähnlich gelagerter Doppelquartett-Einspielung „Free Jazz“. Freier Jazz, Kollektivimprovisation als institutionalisiertes Weihnachtskonzert? Für Ochs nicht zuletzt eine wirtschaftliche Frage.

Nachdem das Rova Quartet „Ascension“ 1995 schon einmal auf die Bühne gebracht hatte, war es nur eine Frage der Zeit bis zur Wiederholung. 2003, zum 25. Geburtstag des Rova Quartets, war es so weit. Nachdem die erste Version in gleicher Besetzung wie das Original (sieben Bläser plus Rhythmusgruppe) entstand, sollte das Stück auf dem Stand von heute, mit dem Wissen von 40 Jahren freier Improvisation interpretiert werden. Das Ergebnis, „Orkestrova: Electric Ascension“ (Atavistic Records) ist monumental, immer erkennbar Coltrane, aber nicht nur durch die elektronischen Beiträger darüber hinausweisend.

Ochs erklärt: „1965 war man noch in den Anfängen des Free Jazz. Es war revolutionär, sieben Bläser, zwei Bässe und ein Schlagzeug zusammenzuholen und ohne Probe zu spielen. Keiner der Musiker auf ‚Ascension‘ hatte zuvor diese Erfahrung, und, was noch wichtiger ist, auch sonst fast niemand. Das ganze Konzept der freien Improvisation war kaum eine Idee in irgendjemandes Kopf.“

Nach mehreren Live-Inkarnationen wurde „Electric Ascension“ jetzt also erstmals in Europa aufgeführt – in Wels, als Kernstück eines Programms, in dem die „klassische“ freie Improvisation ebenso ihren Platz hat wie der gediegenen Folk-Jazz des Tin Hat Quartets oder Trevor Dunns Jazz-Metal-Combo Trio Convulsant.

Dunn war auch dabei, als die elektrische Himmelfahrt startete. Neben den Rova-Hörnern als organisatorischem Zentrum nahmen außerdem Chris Brown (Klavier), Nels Cline, Andrea Parkins (Elektronik), Thomas Lehn (Analoge Elektronik), Natsuki Tamura (Trompete), Lisle Ellis (Kontrabass) und Tom Rainey (Schlagzeug) an der Expedition teil – Angehörige einer Generation von Musikern, die so selbstverständlich frei improvisieren, wie sie sich in Rock, Folk oder Jazz auskennen. So ist Nels Cline unter anderem Gitarrist der Alternative-Country-Band Wilco, Dunn spielt bei Mike Pattons Meta-Metal-Band Fantomas.

75 Minuten dauerte „Electric Ascension“ in Wels und war Hommage wie Neuentdeckung. Das auf wenigen Tönen basierende, wiederkehrende Thema bildete die Klammer, setzte den Rahmen, das Ayler-mäßig Sakrale des Originals schien ebenso auf, wie durch die starke Elektronikerfraktion und Ausdifferenzierungen bis ins Minimalistische dem Stück ganz neue Seiten hinzugefügt wurden. Eine spektakuläre, sinnliche Fassung, die natürlich nicht so schockierend wirkte wie „Ascension“ seinerzeit erschienen sein muss, die aber die überwältigende Kraft des Free Jazz noch einmal spüren ließ. ANDREAS SCHNELL