Bitte ein Beuys

Ein ideologischer Cocktail aus Atlantis-Mythos, Anthroposophie und Katholizismus: In Bremen wird die erste Aufarbeitung des Lehrer/Schüler-Verhältnisses von Joseph Beuys und Ewald Wilhelm Hubert Mataré gezeigt. Eine Schlittenfahrt durch die Kunstgeschichte

Von Henning Bleyl

Am Anfang war die Fassade: Sie ist das mit Abstand größte Exponat der am Sonntag beginnenden Doppelausstellung „Mataré und Beuys in Bremen“. Die Ausstellung macht das 23 Meter hohe und seit 40 Jahren mitten in Bremen stehende imposante Stück überhaupt erst richtig sichtbar. Normalerweise ist Ewald Matarés Atlantis-Haus-Fassade – eine abstrahierte sonnenüberstrahlte Landschaft aus Backstein und Glas – nur für den Preis lang anhaltender Nackenstarre zu bewundern, mangels Raum am Standort Böttcherstraße, diesem aus Expressionismus und Deutschtümelei entstandenen Gesamtkunstwerk.

Jetzt kann man sich entspannen: Der im Paula Modersohn-Becker-Museum angesiedelte und mit „Ewald Mataré und das Haus Atlantis“ betitelte Teil der Doppelausstellung bietet zunächst die Möglichkeit, die digital erfasste Fassade per Kamera-Zoom optisch abzuwandern. Um dann den ideologischen Kern des 1931 von Bernhard Hoetger fertig gestellten Gemäuers zu zeigen: den drei Jahrhunderte währenden Hype um den angeblich im Meer versunkenen Kontinent „Atlantis“ als Konstruktion einer nordischen Antike, die Ursprung aller Hochkultur gewesen sei. Ebenso konzentriert wie kurzweilig schildert Kurator Daniel Schreiber im ohnehin lesenswerten Katalog das „Gründeln von Generationen von Forschern in den seichten Gewässern des Atlantis-Mythos“.

In der Böttcherstraße selbst wirkte mit Herman Wirth ein „Atlantis-Forscher“, der später mit Heinrich Himmler das „SS-Ahnenerbe“ gründete. Nicht umsonst tauchte die ursprüngliche Hoetger-Fassade mit Lebensbaum und gekreuzigtem Odin noch im vergangenen Jahr auf dem Plattencover einer Neonazi-Band auf.

Was hat das alles mit Beuys zu tun? Der war von 1949 anMitglied von Matarés Bildhauerklasse an der Düsseldorfer Kunstakademie, von 1952 bis 1954 sogar sein Meisterschüler. Potenzielle Parallelen zwischen dem jungen Beuys und seinem Lehrer liegen also auf der Hand. Mit der „Atlantis“-Fassade verfügt die Böttcherstraße aber ausgerechnet über das denkbar späteste Alterswerk des Meisters: Just an Matarés Todestag 1965 wurde der letzte Stein gesetzt. Um den gedanklichen Bogen zum jungen Beuys und den späten 1940er Jahren trotzdem zu schlagen, verweisen die Ausstellungsmacher auf den summarischen Charakter der Fassade, in der alles Prägende des Mataré‘schen Gesamtwerkes enthalten sei. Eine nachvollziehbare Interpretation, die die gedankliche Konstruktion des Ausstellungs-Doppelpacks nichtsdestotrotz ein wenig über Bande gespielt erscheinen lässt.

Was den konkreten Schauen freilich nichts von ihren Reizen nimmt. Zwischen Matarés klassisch katholischer Ikonografie und Hoetgers völkisch-expressionistischen Entwürfen wirken die im Paula-Modersohn-Becker-Museum gezeigten Beuys-Werke erfrischend subversiv – ungeachtet ihrer eigenen ideologischen Aufladung. Was Beuys „Sonnenscheibe“ nennt, ist eine Master-Schallplatte, die ihm freilich als Speicher für Energie und Bewegung gilt. Mit Beuys‘ anthroposophischem Vokabular ausgedrückt: Die „Christuskraft“ liegt in den Rillen.

Das Frappierende: Wenn man schon vergleichen möchte, wird man in Bezug auf Beuys am ehesten bei Hoetger fündig. 1955 zeichnete Beuys „Atlantis (etwas später)“, und schon seine Entwürfe für die Kölner Domtüren erinnern mit ihren Reliefs deutlich an Wirths atlantische Lebensbäume und Sonnenräder. Ein Befund, den der Kurator angesichts „der Dichte des kunsthistorisch konstruierten Zusammenhangs“ zwischen Hoetger, Mataré und Beuys als „geradezu unheimlich“ beschreibt.

Am anderen Ort der Doppelausstellung, im Hoetger-freien Marcks-Haus, wird der Besucher von einem großen Podest empfangen, auf dem ein winziger Kopf thront. Nur wenig könnte den hier gewählten Ausstellungstitel „Konzentration und Offenheit“ besser auf den Punkt bringen, als diese Inszenierung von Matarés „Selbstporträt“. Zumal direkt daneben die paradigmatische Darstellung des „Offenheits“-Pols wartet: Beuys „Schamane“ mit kartoffeliger Nase und tiefgelegtem Kehlkopf, drumherum unendliches Braun. Der generationelle Unterschied, vor allem aber der schon in Beuys’ Frühwerk zu Mataré letztlich gegensätzliche Kunstbegriff wird an den Werkgruppen Mensch, Religion und Tier aufgedröselt – etwa indem eine Matarésche Rinder-Reihe bei einem frühen Beuys-Schaf mit kristallin geformten Ohren endet.

Dank der gerade abgeschlossenen Dachrenovierung des Bildhauermuseums, die nicht nur Feuchtigkeit, sondern auch das lästige (Ober)licht mit seinen unberechenbaren Lux-Werten aus dem Haus schaffte, können hier nun auch Druckgraphik und Zeichnungen gezeigt werden. So kommt man jetzt in den Genuss einer Beuys‘schen Pietá, deren Vielstrichigkeit die Form derart relativiert, dass Matarés hoch expressive Mutter/Kind-Gruppe von 1923 daneben fast statisch erscheint.

Im Erdgeschoss hat sich Kurator Arie Hartog maximale Konsequenz gegönnt: Ein ganzer Raum ist ausschließlich Beuys’ „Evolution“ vorbehalten, also dem 1974 mit Bleistift hingeworfenen Gesamtschaubild des Seins überhaupt. Auf einem überschaubaren Querformat hat Beuys die Welt mit 44 Begriffen geordnet, von der „kosmischen Plazenta“ bis zu Platons „Sonnenstaat“. Außer diesem Original findet sich an den Wänden nur noch die Verdoppelung beziehungsweise Isolierung der Begriffe in Gestalt der abgetippten Schlagworte.

„Hier geht’s eben nur noch um das Denken“, erläutert Hartog seine am Unsinnlichen orientierte Raumkonzeption: „Viele Besucher werden fragen: Scheiße, ist das alles? Aber genau das ist ja der erweiterte Kunstbegriff.“ Von hier aus ist Matarés „Atlantis“-Fassade ein Vielfaches mehr als die 1.000 Meter Luftlinie zwischen den Museen entfernt. Der Weg lohnt sich trotzdem.

Die Doppelausstellung Mataré/Beuys ist bis zum 19. Februar in Bremen zu sehen. Der Beitrag des Gerhard-Marcks-Hauses („Konzentration und Offenheit“) wird diesen Sonntag um 11.30 Uhr eröffnet, „Ewald Mataré und das Haus Atlantis – eine Kunstgeschichte zwischen Hoetger und Beuys“ zeitgleich im Paula-Modersohn-Becker-Museum. Neben Führungen wird ein Lesungs-, Tanz-, Seminar- und Filmprogramm angeboten. Nähere Informationen: www.marcks.de sowie www.pmbm.de.