JAN FEDDERSEN über PARALLELGESELLSCHAFT
: Wir haben verstanden

Statements der Verworrenheit? Das Berliner Holocaust-Stelenfeld im November, unverwüstlich, schroff, anmutig

Fies kalt ist es geworden, auch im Regierungsviertel; die Reichstagskuppel leuchtet wie eh und je, nun früher als sonst. Menschen warten vor dem Parlament, um Einlass zu erhalten, brav und höflich. Am Brandenburger Tor wird auf der letzten Baustelle dieses Viertels gewerkelt, die US-Botschaft nimmt Maße an. Und gegenüber, auf dem Holocaust-Stelenfeld, abends, auch nachts, so eine Stunde vor Mitternacht? Verblüffend. Alles wie im Sommer, jetzt nur wärmer angezogen.

Menschen suchen Halt auf den Stelen, das ist zwar gefährlich, denn es ist rutschig-nass, aber was soll man auch sonst riskieren? Zwischen den anthrazitfarbenen Stelen huschen Passanten umher. Alles wie immer, auch am 9. November, wahrscheinlich auf ewig und allen schwierigen Jahreszeiten stets zum Trotz. Es tuschelt und wispert, deklamiert und raunzt in den Steinschluchten. „Ist ja gar nicht gruselig hier“ – „Ich fühl’ keine Erinnerung“ – „Du findest mich nie“ – „Darf man hier auch knutschen?“ – „Voll die Stimmung, echt“ – „ Blitzlicht ist wohl verboten“ – „Das packt mich heftig“: Statements, flüchtig, aus dem Leben, dem touristischen, egal, ob es sich aus der einheimischen Bevölkerung speist oder der zugereisten. Neulich hat der Hamburger Professor Peter Reichel gesagt, das Holocaust-Stelenfeld sei kein deutsches Nationalsymbol, vielmehr finde er es „entbehrlich“. Nun ja, dafür, dass außer dem Checkpoint Charlie kein Platz in der Hauptstadt mit so mythologischem Voodoo umwabert ist und entsprechend oft besucht wird, ist diese Weitwinkelbeobachtung doch eher irrig: Die „Topographie des Terrors“, eine Art begehbare Volkshochschule im ew’gen Aufbau, mag pädagogisch sinnvoller sein als ein Stelenfeld – das selbstreferentielle Memorial ist einfach atmosphärisch aufheizbarer. Das mag den Ehrgeiz eines Lehrbeauftragen zwar kränken, wahr bleibt es, so oder so.

Zumal das Holocaust-Stelenfeld grundsätzlich vom Gefühl der Gefährdung lebt. Wachleute müssen es schützen, denn man weiß ja nie. Auch ist das Rauchen und Softeis-Essen innerhalb des Feldes weiter verboten, aber auch diese Grenze spielt dem Charakters des nationalen Symbols nur zu. Obendrein wurde die Angstlust vor brauner Heimsuchung des Feldes neulich mal wieder prächtig befriedigt. Auf einigen der Stelen fanden sich Schmierereien: Davidsterne sollen gesprüht worden sein – und das verwirrt den Nachrichtensammler mehr, als dass er diesen Spot aus nichterlebter Wirklichkeit akkurat verdauen könnte. Neonazis!, sagt der Staatsschutz, könnten das gewesen sein. Bitte? Ungezogene Jungs, die Davidsterne sprühen? Das Symbol des jüdischen Anspruchs auf Selbstbehauptung? Das Zeichen, das Israels Nationalflagge ziert? Sprühen Neonazis, haben sie Gelegenheit wie künstlerische Ruhe, nicht eher ein Hakenkreuz als Statement? Und wenn es solche Untergrundkämpfer waren, die dem Tausendjährigen Reich nachweinen, bockig und stur: Beherrschen sie das Vokabular des politischen Graffitiwesens etwa wirklich so unzulänglich? Wissen sie, was sie tun? Muss man sich Sorgen machen um die politische Klarheit dessen, was sie sein wollen: echte Kämpfer für das völkische Ganze?

Oder darf man die gesprühten Davidsterne anders lesen? Vielleicht als Statement von Antifaschisten, im Sinne von: keine street credibility ohne antimuseale Beglaubigung – eine Performanz im Handschriftlichen? Oder, noch anders verstanden, als neonazistischer Appell, nicht für blöd, ja unkundig gehalten zu werden – zu lesen als verständliche Feigheit, am Ort des nationalen Gedenkens echte Opposition zu markieren?

Im Sommer war es ja so, dass die Polizei am Rande des Tiergartens einige Glatzen erspähte, willig, sie in Gewahrsam zu nehmen – die sich aber nicht trauten, die Straße zum Stelenfeld zu überschreiten: Ängstlich, klar, nicht über die Asche der braunen Vorfahren zu schlurfen, über denen ja das Stelenfeld angelegt ist. Davidstern statt Hakenkreuz? Diese schlaffe Botschaft rechter Schmierer kann kaum anders gelesen werden als: „Wir haben verstanden!“

Fotohinweis: JAN FEDDERSEN PARALLELGESELLSCHAFT Fragen an das Mahnmal? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN