Solche Sachen waren gewesen

„Józef ist tot“, hatte es geheißen, „dein Großvater.“ Ein seltsamer Opa: erst alliierter Befreier und Besatzungssoldat in Deutschland, dann unehelicher Vater und „polnisches Schwein“ – und schließlich in seiner Heimat als „Vaterlandsverräter“ in Haft. Eine Spurensuche

VON KOLJA MENSING

1. Ein Bündel Briefe

Viel hatte das Leben nicht von ihm übrig gelassen. Auf dem Foto, das an diesem Herbsttag mit der Post gekommen war, lag er klein und schmächtig im offenen Sarg, er trug einen dunklen Anzug, der ihm mehrere Nummern zu groß war, und die Haut, die sich über seinen Wangen spannte, wirkte so dünn wie Papier. Mein Vater warf einen Blick auf die beigelegte Karte, dann schob er sie zurück in den schweren, weißen Briefumschlag mit den fremd aussehenden Briefmarken. „Józef ist tot“, sagte er.

Es war der 9. November 1984, ich war damals dreizehn Jahre alt, und der Mann auf dem Foto war mein Großvater. Ich hatte ihn allerdings noch nie gesehen. Józef Kozlik war für mich nicht mehr gewesen als ein Bündel Briefe in altmodischer Handschrift, die mein Vater ganz hinten in einer seiner Schreibtischschubladen aufbewahrte, ein Stapel Pakete mit Tabak und Kaffee, die meine Mutter regelmäßig zur Post gebracht hatte, und ein paar seltsamer Geschichten, die man sich nur hinter vorgehaltener Hand erzählte.

Jetzt war er also gestorben, in seiner Wohnung in der polnischen Kleinstadt Lubliniec, am anderen Ende der Welt. Selbst sein Tod kam mir unwirklich vor.

2. Die große Liebe

Seit jenem Tag im Herbst sind inzwischen 21 Jahre vergangen. Ich bin 34 Jahre alt, und vielleicht wäre ich niemals nach Polen gefahren, doch dann bekam ich in diesem Frühjahr ein Stipendium für einen längeren Aufenthalt in Krakau angeboten. Nach kurzem Zögern nahm ich an.

Ich kam Anfang April nach Krakau. Bereits auf meinen ersten Spaziergängen stieß ich in den Auslagen sämtlicher Buchläden der Stadt auf ein Buch, das sich offenbar ähnlich gut verkaufte wie die Biografie des gerade erst verstorbenen Papsts Johannes Paul II. Es handelte sich um die polnische Übersetzung von Matthew Parkers Studie „Monte Cassino“, die erste umfassende Veröffentlichung zur Schlacht um das gleichnamige italienische Kloster im Jahre 1944. Der Sieg hatte den alliierten Truppen damals den Weg nach Rom geöffnet – und vielen Polen gilt Monte Cassino heute als Symbol für den heldenhaften Einsatz der so genannten Exilarmee, deren Soldaten in Italien und anderswo während des Zweiten Weltkriegs Seite an Seite mit den Alliierten gegen die Wehrmacht ins Feld gezogen waren.

Józef Kozlik hatte ebenfalls in den Reihen dieser Armee gekämpft. Ansonsten wäre er wohl nie mein Großvater geworden.

Ich kaufte die englische Ausgabe von „Monte Cassino“ und einige andere Bücher zum Thema, und begann zu lesen. Die Exilarmee wurde im September 1939 gegründet, unmittelbar nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen. Die polnische Regierung floh erst nach Bukarest und dann nach Paris und rekrutierte umgehend neue Kampfverbände aus evakuierten Soldaten und Immigranten. Nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich ging die polnische Regierung nach London, und ihre kämpfenden Truppen wurden jetzt teilweise dem britischen Oberkommando unterstellt.

Nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941 unterstützte auch Stalin – zumindest für eine kurze Zeit – die polnische Exilarmee und ließ den in Moskau inhaftierten General Wladisław Anders sechs weitere Divisionen aus freigelassenen polnischen Kriegsgefangenen und Deportierten zusammenstellen. Es war diese „Anders-Armee“, die in Monte Cassino zum Einsatz kam.

Glaubt man den verstreuten Berichten von Zeitzeugen, so war jeder einzelne Angehörige der polnischen Exilarmee ein echter Patriot. „Ritterlichkeit, Poesie und Abenteuerlust“ meinte der britische Verbindungsoffizier Harold Macmillan in ihren Augen aufblitzen zu sehen, und der sowjetische Journalist und Schriftsteller Ilja Ehrenburg erfreute sich am Anblick der Männer, die „ihre Waffen voller Glück in den Armen hielten – so wie man eine Frau hält, die man liebt“.

Ehrenburg wird mit seiner Beobachtung wohl richtig gelegen haben. Viele der polnischen Soldaten, die für ihr Vaterland in den Kampf zogen, waren so jung, dass sie wohl wirklich zu den Waffen gerufen worden waren, bevor sie die Liebe kennen lernen konnten. Auch mein Großvater Józef Kozlik sollte die Frau seines Lebens erst treffen, als der Krieg zu Ende war. Zuerst lernte er das Töten, und zwar gründlich. Doch das erfuhr ich erst sehr viel später.

Bis zum Ende des Jahres 1944 war die polnische Exilarmee auf fast 200.000 Mann angewachsen. Ihre Soldaten hatten in Frankreich und in Nordafrika gekämpft, in Italien und in den Niederlanden, und ein besonders gründlicher Historiker hat sogar die deutschen Flugzeuge gezählt, die die polnische Luftwaffe während der Schlacht um England abgeschossen hat: Es waren mehr als zweihundert.

Als Anerkennung für ihre militärischen Leistungen durften zwei Verbände der Exilarmee im Mai 1945 gemeinsam mit den britischen Truppen in Norddeutschland einrücken. Sie bekamen sogar den Status einer Besatzungsarmee, und so waren es polnische Soldaten, die im Emsland und in Cloppenburg und später auch in Teilen Ostfrieslands die Ordnungsgewalt ausübten. Besonders gerne spricht heute eigentlich niemand in der ehemaligen „polnischen Besatzungszone“ über diese Zeit. Meine Großmutter eingeschlossen.

Mein Großvater kam damals als Dolmetscher des Stadtkommandanten in die Garnisonstadt Fürstenau. „Deine Mutter habe ich vor Ihrem Hause kennen gelernt“, erinnerte sich Józef Kozlik viele Jahre später in einem Brief an meinen Vater. „Seit der Zeit haben wir uns täglich außerhalb der Stadt getroffen und sehr geliebt“, schrieb er in seinem altmodischen und manchmal etwas ungelenken Deutsch, und weiter: „Nach ein paar Tagen haben wir uns schon im Hause getroffen, und ich habe bei Euch geschlafen.“

Im Dezember 1945 schenkte meine Großmutter ihm ein Foto von sich. „Ich bin Dein, ewig“, schrieb sie auf die Rückseite. „Behalt mich weiter so und denk immer an unsere Liebe und unsere Zukunft.“ Damals war meine Großmutter siebzehn Jahre alt und seit kurzem schwanger. Sie und Jozéf verlobten sich; an eine Heirat war wegen des geltenden „Fraternisierungsverbots“ zunächst allerdings nicht zu denken: Besatzungssoldaten, die private Beziehungen mit den Deutschen unterhielten, mussten mit Gefängnisstrafen rechnen.

„Solche Sachen waren gewesen“, fasste mein Großvater später in einem Brief an meinen Vater die sonderbaren Umstände zusammen, unter denen er meine Großmutter kennen gelernt hatte. Das ist ein schöner Satz. Besser kann man die Verwunderung über die unvorhergesehenen Wendungen der eigenen Lebensgeschichte vermutlich nicht ausdrücken.

3. Doppelte Vergangenheit

Als der Brief 1973 seinen Empfänger erreichte, war mein Vater bereits 27 Jahre alt. Er war verheiratet, befand sich auf dem besten Weg, Studienrat zu werden, und außerdem hatte er einen Sohn: Ich war damals gerade zwei geworden. „Mit anderen Worten, Sie sind Opa“, schrieb mein Vater damals, höflich und zugleich distanziert in dem ersten Brief, den er nach Lubliniec schickte.

Das „Sie“ war nur konsequent, schließlich hatte mein Vater über meinen Großvater bis zu diesem Zeitpunkt nichts gewusst. Józef Kozlik wurde weder in seiner Geburtsurkunde noch in einem anderen offiziellen Dokument genannt. Und meine Großmutter hatte ihn in all den Jahren kein einziges Mal erwähnt.

„Solche Sachen waren gewesen.“ Man kann in diesem Satz mit seiner doppelten Vergangenheitsform auch den Wunsch hören, dass man mit vielen Dingen, die einem in seinem Leben widerfahren sind, gerne für immer abschließen würde. Meinem Großvater Józef Kozlik ist genau das allerdings nie gelungen.

4. Zeit aus den Fugen

Ich bin schon seit zwei Monaten in Polen, als ich schließlich aufbreche. Es ist eine lange Fahrt von Krakau nach Lubliniec, und während am Horizont allmählich die ersten Schornsteine des oberschlesischen Industriegebiets auftauchen, spielt Radio Katowice Hits aus den letzten dreißig Jahren. Zu der Musik von Cliff Richard und Stevie Wonder, den Eurythmics und Tracy Chapman, den Pointer Sisters und Natasha Bedingfield ziehen alte Schuppen und halb verfallene Mietshäuser aus dem 19. Jahrhundert am Fenster vorbei, gefolgt von schmutzigen Fabrikhallen und bunt bemalten Plattenbauten, am Straßenrand werben große Reklameschilder für Plus, Mediamarkt und McDonald’s. Die Zeit ist dabei, aus den Fugen zu geraten. Langsam verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart miteinander, und plötzlich bin ich da.

Lubliniec ist keine schöne Stadt. Viele Geschäfte stehen leer, durch die Fußgängerzone streifen ein paar vereinzelte Teenager, und nur an der Orlen-Tankstelle ist reger Betrieb. Das schmale, graue Haus, in dem Józef Kozlik im Jahre 1925 geboren wurde, liegt in einer Wohnsiedlung am Rand der Stadt. Die Straße ist nicht befestigt, es ist einfach nur eine Sandpiste mit unzähligen Schlaglöchern.

Lubliniec – oder Lublinitz, so lautet der deutsche Name – wurde im 13. Jahrhundert zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Zunächst gehörte die kleine Stadt zum Habsburgerreich, später wurde sie preußisch. Nach dem Ersten Weltkrieg entschieden sich die Bewohner in einer Volksabstimmung gegen den Anschluss an das neu gebildete Polen, und so blieb ihre Stadt innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs.

Es gibt keine nennenswerten Sehenswürdigkeiten. Lubliniec wird in keinem Reiseführer erwähnt, und wenn der Ort in den Geschichtsbüchern auftaucht, dann nur in den schwärzesten Kapiteln: In der psychiatrischen Heilanstalt der Stadt, die von den Nationalsozialisten 1941 vorübergehend von Lublinitz in Loben umbenannt wurde, haben die Ärzte der SS während des Zweiten Weltkriegs bei medizinischen Experimenten mehr als zweihundert Kinder ermordet.

„Ich komme aus Deutschland“, sage ich zu der alten Frau, die mir die Tür öffnet. „Ich glaube, wir sind verwandt.“

Es dauert einen Moment, bis Anna Kurek, die jüngste Schwester meines Großvaters, im Stammbaum ihrer Familie einen Platz für mich gefunden hat.

„Tante“, sagt sie dann auf Deutsch und zeigt auf sich.

„Großtante“, verbessere ich sie.

Anna nimmt mich in die Arme und küsst mich auf beide Wangen, und wir verbringen den Nachmittag mit einem Stapel alter Fotos und dem Versuch, ein wenig Ordnung in die Zeit zu bringen. Später kommen ihre Kinder, ihre Enkel und ihre Urenkel dazu, und obwohl nur Anna ein paar Brocken Deutsch spricht, gewinnt das unscharfe Bild meines Großvaters allmählich Konturen.

5. Lautlos und finster

Józef Kozlik war Pole, aber weil er in Lubliniec bzw. in Lublinitz geboren war, besaß er die deutsche Staatsangehörigkeit. Also wurde er 1942 im Alter von siebzehn Jahren in die Wehrmacht eingezogen und gehörte nun zu den unzähligen „reichsdeutschen Polen“, die den Fahneneid auf Hitler schwören mussten. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs desertierten fast 90.000 dieser polnischen Wehrmachtsoldaten und liefen zur Exilarmee über, und auch meinem Großvater gelang die Flucht. Statt für den „Führer“ und das Deutsche Reich kämpfte er jetzt für ein Vaterland, in dem er selbst nie gelebt hatte.

„Spadochroniarz“, sagt meine Großtante, als ich sie nach seiner Waffengattung frage, und weil ich das polnische Wort nicht verstehe, nimmt ihre Enkelin Jola ein Blatt Papier zur Hand und zeichnet ein Strichmännchen, das an einem Fallschirm vom Himmel herabschwebt.

Es stellte sich heraus, dass mein Großvater Angehöriger der 1. Selbstständigen Fallschirmjägerbrigade war, die zu trauriger Berühmtheit gelangte, weil sie im September 1944 in Arnheim während der gescheiterten Operation „Market Garden“ eingesetzt worden war. Die polnischen Fallschirmjäger sollten damals den Rückzug einer britischen Einheit unterstützen und verloren dabei fast ein Viertel ihrer Soldaten.

Trotz der Tragödie am Niederrhein steht die Brigade meines Großvaters im Ruf, eine besonders schlagkräftige Eliteeinheit gewesen zu sein, und bis heute werden ihre Angehörigen in Polen ehrfürchtig als cichociemne bezeichnet. Auf Deutsch bedeutet das so viel wie „lautlos und finster“.

„Józef nie Gewehr. Immer nur Messer“, erklärte mir seine Schwester Anna und strich sich mit der Handkante über den Hals. Anschließend lachten wir, weil der dreijährige Daniel mit seiner Spielzeugkanone eine Salve Plastikbälle auf mich abgefeuert hatte.

Jetzt wusste ich, was mein polnischer Großvater im Krieg gemacht hatte. Jozéf Kozlik hatte sich mit seinem Fallschirm hinter der Front absetzen lassen und dann versucht, möglichst vielen deutschen Soldaten die Kehle durchzuschneiden.

6. Mütter und Großmütter

Unter den vielen Fotos, die meine Verwandten und ich uns an diesem Nachmittag gemeinsam ansahen, ist auch ein Bild meiner Eltern, die 1978 für einige Tage in Lubliniec waren. Es war das einzige Mal, dass sie meinen polnischen Großvater besucht haben. Mein Vater war damals 32 Jahre alt, nur zwei Jahre jünger, als ich es jetzt bin. Es ist also kein Wunder, dass meine Großtante Anna mich an diesem Nachmittag mehrfach mit ihm verwechselt hat.

Die Zeit war wirklich gründlich aus den Fugen. „Wirst du Mutter erzählen, dass du hier warst?“, fragt Anna mich, als wir uns am Abend voneinander verabschieden, und zuerst verstehe ich nicht, was sie meint.

„Natürlich“, sage ich, und erst dann begreife ich, dass ihre Frage nicht meiner Mutter gilt, sondern der Frau, die beinahe ihren Bruder Józef geheiratet hätte, die ein Kind von ihm bekommen hat – und die später sämtliche Briefe, die er aus Polen an sie und ihren gemeinsamen Sohn schrieb, ungelesen im Herdfeuer verbrannte.

Wenn Anna „Mutter“ sagt, meint sie meine Großmutter. Und sie benutzt ganz ähnliche Worte wie Józef damals in seinen Briefen an meinen Vater. „Weiß deine Mutter, dass wir beide in Briefverbindung sind, was sagt sie dazu?“, hatte er ihn immer wieder gefragt.

„Natürlich werde ich es ihr erzählen“, wiederhole ich, als ich in mein Auto steige. Sicher bin ich mir allerdings nicht.

7. Beweisstücke

Im Juni des Jahres 1947, mein Vater war inzwischen fast ein Jahr alt, wurde die Fallschirmjägerbrigade meines Großvaters aufgelöst. Józef Kozlik ließ sich nach Deutschland entlassen und zog in das Haus, in dem meine Großmutter mit ihren Eltern lebte. Inzwischen war ihre romantische Liebe von der Wirklichkeit eingeholt worden. In den Briefen, die er mehr als 25 Jahre später an meinen Vater schrieb, erinnerte er sich, dass meine Großmutter auf der Straße als „polnische Hure“ beschimpft wurde. Und er als „polnisches Schwein“.

Józef ergriff die Flucht. „Die Leute waren damals dort so schlecht, der Hass zwischen Besiegten und Siegern war so groß, dass ich ausfahren musste.“ Er zog nach Bückeburg bei Hannover, pachtete zwei Kinos und machte sich mit der „Globus Lichtspiele G.m.b.H“ selbstständig. Einen Bogen Briefpapier mit dem Firmenstempel hat er später wie ein Beweisstück an meinen Vater geschickt: Solche Sachen waren wirklich gewesen!

Doch mein Großvater war Soldat und kein Geschäftsmann, und nach der Währungsreform im Jahre 1948 musste er Bankrott anmelden. Zurück nach Fürstenau konnte er nicht mehr, denn die Eltern meiner Großmutter wollten von einer Hochzeit mittlerweile nichts mehr wissen. Es wäre „eine Schande über der Familie“, wenn ihre Tochter „einen Ausländer heiratet, dazu noch einen Polen“, schrieb Józef über eines der letzten Gespräche, die er mit der Mutter seiner Verlobten führte.

Meine Großmutter war inzwischen 21 Jahre alt, also volljährig, und sie hätte auch ohne Einwilligung ihrer Eltern heiraten dürfen. Sie tat es nicht. Stattdessen trennte sie sich von Józef, in einem Brief, den sie ihm nach Bückeburg schickt. „Sie schreibt, dass sie dazu gezwungen worden wäre und dass sie mich nie im Leben vergisst.“ So Józef Kozlik.

Es gibt auch andere Geschichten über diese Trennung. Józef Kozlik, erfuhr mein Vater sehr viel später, soll bereits damals viel getrunken haben, und wahrscheinlich hatte er auch noch andere Frauen. Davon ist in seinen Briefen keine Rede. „Du siehst also“, schrieb er stattdessen an meinen Vater, „es war nicht meine Schuld, dass ich Deine Mutter nicht geheiratet habe, bloß die verworrenen Zeiten, die damals herrschten in Deutschland.“

Solche Sachen waren gewesen. Und manches war vielleicht auch ein wenig anders gewesen. So funktionieren Familiengeschichten.

Den Brief, in dem meine Großmutter sich von ihm trennt und ihm gleichzeitig ewige Liebe schwört, hat mein Großvater angeblich verbrannt. „Leider“, schrieb er meinem Vater. Es wäre ein weiteres Beweisstück für seine Version der Vergangenheit gewesen.

8. Ein starkes Herz

Am 6. Dezember 1949 verließ Józef Kozlik Deutschland und ging zurück nach Polen: „Das war mein größter Fehler in meinem Leben, was ich nur machen konnte.“ Sobald er den Fuß auf polnisches Staatsgebiet gesetzt hatte, wurde er verhaftet. Als ehemaliger Angehöriger der Exilarmee galt er der sozialistischen Regierung als „politisch verdächtig“. Józef Kozlik verbrachte die ersten eineinhalb Jahre in seiner neuen, alten Heimat im Gefängnis.

Mein Vater war damals drei Jahre alt. Auf dem letzten Foto, das ihn und Józef zusammen zeigt, trägt er eine Latzhose und einen gestreiften Pullover und hält meinen Großvater und meine Großmutter an den Händen. Die drei sehen aus wie eine glückliche Familie.

Es dauerte fast 25 Jahre, bis mein Vater zum ersten Mal einen Brief aus Polen bekam. Józef hatte seine Adresse über das Rote Kreuz bekommen, nachdem er auf seine Briefe nach Fürstenau keine Antwort bekommen hatte. Von nun an schrieben sich mein Vater und mein Großvater zwei- oder dreimal im Jahr, die Briefe aus Polen wurden bei uns zu Hause am Mittagstisch andächtig vorgelesen, und meine Mutter packte Pakete für die Verwandten in Lubliniec, die wir gemeinsam zur Post brachten.

Nur meiner Großmutter durften wir nichts davon erzählen. Meine Eltern müssen gedacht haben, dass es ihr das Herz brechen würde, wenn sie gewusst hätte, dass Józef Kozlik wie ein Gespenst aus dem Dunkel der Vergangenheit aufgetaucht war.

Heute glaube ich, dass meine Großmutter ein ziemlich starkes Herz gehabt haben muss, wenn sie diese Geschichte mehr als fünfzig Jahre lang darin aufbewahrt hat.

9. Vom glücklichen Leben

Józef hatte kein so starkes Herz. Er sei nie darüber hinweggekommen, dass er seinen Sohn und seine große Liebe in Deutschland zurückgelassen hatte, sagt meine Großtante Anna, als ich sie in Lubliniec besuche: „Er hat jedes Mal geweint, wenn er von deiner Mutter gesprochen hat.“

„Meiner Großmutter“, verbessere ich sie.

Nachdem mein Großvater aus dem Gefängnis von Stettin entlassen worden war, besuchte er die Bautechnische Schule in Katowice, die er 1954 mit einem Diplom verließ. Im gleichen Jahr heiratete er. „Ich dachte, dass ich diesmal schon in Leben glücklich werde, war ich aber kurz (bloß 3 Monate)“, schrieb er nach Deutschland.

Spätestens als seine neue Schwiegermutter erfuhr, dass Józef mit einer anderen Frau bereits einen Sohn hatte, war es mit dem Glück vorbei: „Da hat sie mit mir immer täglich gezankt, und ich soll besser nach Deutschland fahren, dort wo ich habe ein Kind gelassen.“ 1956 wird die Ehe geschieden.

Ein Jahr später stellte Józef einen Antrag auf Ausreise aus der Volksrepublik Polen, der allerdings nicht genehmigt wird. „Er wollte zurück zu dir“, sagt Anna.

„Zu meinem Vater“, verbessere ich sie noch einmal. „Und vielleicht zu meiner Großmutter.“

1957 versucht Józef, das Land illegal zu verlassen, doch der Weg zurück in das vermeintliche Paradies seiner Vergangenheit endete ein paar Kilometer hinter der ersten Grenze, die er überquerte. „Wollte nach dem Westen, aber wurde in DDR geschnappt, in der Stadt Zittau“, fasste er es später knapp zusammen. Er kam erneut ins Gefängnis, diesmal als „Vaterlandsverräter“, und verbrachte sechs weitere Jahre in Haft. Solche Sachen waren gewesen.

10. Der große Krieg

Nachdem er entlassen worden war, zog Józef zurück nach Lubliniec zu seiner Mutter, in das Haus, in dem er geboren worden war. „Jetzt das Leben geht weiter nicht besonders“, schrieb er in einem seiner ersten Briefe an meinen Vater: „Ich habe drei Schwestern und einen Bruder, alle sind verheiratet, haben Kinder und sind glücklich, außer mich!“

Zu Weihnachten und zu Ostern schickte Jozéf Kozlik Postkarten, die er gelegentlich mit „Euer Vater und Opa“ unterschrieb – und immer wieder Briefe, die zunächst unglücklich und dann von Mal zu Mal verbitterter klingen. „Du fragst mich nach meine Familie, lieber will ich davon nicht sprechen“, schrieb er 1977 meinem Vater: „Meinen Geschwister geht es sehr gut, haben alles, aber wollen noch mehr haben, nach dem Tod unserer Mutter werden wir uns prozessieren im Gericht, so wie in deiner Familie.“

So wie in unserer Familie?

Mein Vater musste ihm zumindest in Andeutungen geschrieben haben, wie die kleine Welt, die Jozéf Kozlik nach dem Zweiten Weltkrieg in Fürstenau im Haus meiner Großmutter kennen gelernt hatte, in den Jahren und Jahrzehnten danach allmählich in Stücke zerfallen war. Meine Großmutter hatte schließlich geheiratet, einen Mann, den ich später „Opa“ nennen sollte. Von nun an wurden Konflikte, die es zwischen ihr und ihrer Schwester gab, zwischen ihr und ihren Eltern und zwischen ihrem Mann und ihrem Stiefsohn immer größer – bis schließlich Rechtsanwälte und Richter eingeschaltet wurden. Es begann eine lange und schmutzige Schlacht, die sich über viele Jahre hinzog.

Auch das gehört zum dunklen Teil unserer Familiengeschichte, über den heute niemand gerne redet, und das Einzige, an das ich mich lebhaft erinnern kann, sind die Polizeibeamten, die damals in unser Haus kamen und meinen Vater in einer der zahllosen Erbstreitigkeiten als Zeugen vernahmen. Es ging um Geld, um Grundstücke und um Gefühle. Und natürlich immer wieder um die Vergangenheit. Man könnte einen Roman darüber schreiben. Oder gleich zwei.

„Wie sind die Prozesse gelaufen und wer hat gewonnen?“, erkundigte Jozéf sich später noch einmal. Ich glaube nicht, dass mein Vater ihm diese Frage beantworten konnte. Ein Familienstreit endet gewöhnlich wie ein Krieg. Alles liegt in Trümmern, und niemand weiß, wer eigentlich gewonnen hat.

Solche Sachen waren auch gewesen. Und möglicherweise ist das Schweigen wirklich der einzige Weg, ihnen zu entkommen.

11. Zwei Flaschen Schnaps

In Lubliniec schaffte man es immerhin, sich miteinander zu arrangieren, wenn auch mehr schlecht als recht. Józef arbeitete mittlerweile in einem Bauunternehmen, der Streit mit seinen Geschwistern und seiner Mutter wurde zur Routine. In stillen Stunden hing mein Großvater traurigen Erinnerungen nach – und offenbar trank er sich nun langsam zu Tode.

„Ich habe Geschwüre am Magen und kranke Leber“, schrieb er lakonisch bereits in seinem ersten Brief an meinen Vater: Genau vierzehnmal sei er in den letzten zehn Jahren im Krankenhaus gewesen. Später klagt er immer wieder über Magenschmerzen, die ihn über Wochen hinweg plagen. „Schicke mir Rennie-Tabletten, die haben sehr gut gewirkt“, bat er gelegentlich, berichtete aber gerne auch minutiös von seinem Alkoholkonsum: „Silvester kam zu mir ein Freund“, heißt es im Januar 1979, „und da haben wir zwei Flaschen Schnaps ausgetrunken (1 ltr.) auf Euer Wohl und Glück.“

Es ist das Jahr, nachdem meine Eltern schließlich nach Lubliniec gefahren waren. Stolz hatte Józef seinen Sohn und seine Schwiegertochter durch die Stadt geführt, sie hatten viel geredet und gemeinsam weitere Besuche geplant, die jedoch nie stattfinden sollten. Immerhin verkaufte er den Taschenrechner, den meine Eltern ihm auf seinen Wunsch hin mitgebracht hatten, anschließend für 3.000 Złoty, und zusammen mit seinem Ersparten reichte das Geld, dass er sich einen lang gehegten Wunsch erfüllen konnte: „So habe ich mir endlich im Leben einen Fernsehapparat gekauft.“

Auf den Fotos, die meine Eltern von ihrem Besuch mitbrachten, sah Józef Kozlik bereits aus wie ein sehr alter Mann. Gesundheitlich ging es ihm nun immer schlechter. Es dauerte nur noch sechs Jahre, bis er zum letzten Mal in ein Krankenhaus kam. „Nehme chemische Spritzen und Medikamente.“

1984 starb er an Krebs. Er war gerade einmal 57 Jahre alt.

Das ist die Geschichte meines polnischen Großvaters. In seinem kurzen Leben war Józef Kozlik zum Deserteur und zum Trinker geworden, zum Kriegshelden und zum Vaterlandsverräter, er hatte seine große Liebe gefunden und wieder verloren, und er war Vater gewesen, ohne einen Sohn gehabt zu haben. Er hatte mehr als sieben Jahre im Gefängnis verbracht und sich mit seiner Familie herumgestritten. Und er hatte bis zum Schluss der Vergangenheit hinterhergeweint. So etwas war alles gewesen.

12. Das letzte Foto

In Lubliniec habe ich an jenem Nachmittag mit meiner Großtante Anna den Friedhof besucht und ein Foto vom Grab meines Großvaters gemacht. „Requiescat in pacem“ steht auf dem schwarzen Marmorstein unter seinem Namen, „Ruhe in Frieden“. Das klingt fast wie ein Witz.

KOLJA MENSING, ehemals Kulturredakteur der taz, lebt als freier Autor in Berlin. Von ihm ist erschienen: „Wie komme ich hier raus? Aufwachsen in der Provinz“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002, 192 Seiten, 8,90 Euro