Heftig fremd

Eine Geschichte der Gefühle: William Forsythes Tanztheaterstück „Clouds after Cranach“ fragt in Frankfurt nach der Macht von Bildern und Erfahrung

Tief über der Tanzfläche hängt eine Decke aus Licht. Zu ihr geht der Blick der Tänzer immer wieder hoch, wenn sie niedersinken

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Transformationen. Übersetzungen. Wie sie gelingen, davon hängt manchmal das Leben eines Menschen ab. Die Mutter, die im zweiten Teil eines neuen Stücks von William Forsythe einem Übersetzer ins Arabische von der Verhaftung ihres Sohnes erzählt, gerät zunehmend unter Druck. Denn die Fragen, die der Übersetzer erst der sprachlichen Genauigkeit wegen zu stellen scheint, werden allmählich zum Verhör. Er zweifelt an ihrer Erzählung, die Rollen von Opfer und Täter verrutschen und je eindringlicher die Mutter das Ereignis auf dem vollen Marktplatz beschreibt, desto mehr verwirrende Details tauchen auf: Waren die Männer Polizisten oder Soldaten? Je heftiger sich die Fäden verwirren, desto mehr nimmt die Tänzerin Jone San Martin in der Rolle der Mutter den ganzen Körper zu Hilfe, um Wort für Wort aus sich herauszuziehen und zu pressen und irgendwann wirkt sie wie ein Medium in Trance, durch das die Worte wie ein zwanghafter Spuk ziehen.

Die Szene, denkt man, spielt irgendwo in der Gegenwart im Nahen Osten. Sie hat aber auch eine Dimension, die in andere Zeiten und Räume verweist, nicht nur durch die am Ende fast mystische Besessenheit der Mutter. Ein dritter Tänzer auf der Bühne ist mit Bildbeschreibungen beschäftigt: Seine Hände kneten die Luft und fahren in großen Bewegungen durch den Raum, während er Farben benennt, als ob er eine monumentale pastose Malerei Stück für Stück ertasten würde. Einmal beschreibt er auch etwas wie die Rüstung eines Ritters. Vor den Zuschauern setzt sich das Bild nicht zur Einheit zusammen, die Mutter aber erkennt sich in den Situationen und streitet mit ihm über die Deutung.

Bilder deuten. Die Perspektive verändern. Ins Bild eintreten. Sich identifizieren. Ergriffen werden. Von der Zeugenschaft zum Mitfühlenden werden. Darum geht es in „Clouds after Cranach“, dem Tanzstück von William Forsythe, das in Frankfurt uraufgeführt wurde. Das ist eine Vermutung, die sich während der beiden Teile des Stückes erst ganz vage einstellt und erst am Ende, beim Herausgehen, erhält man eine kleine Bestätigung durch zwei Bilder, die am Ausgang hängen. Das eine ist ein Nachrichtenbild von Reuters aus einem Kriegsgebiet, mit brennenden Autos und einem Körper, der von Uniformierten weggetragen wird, nicht weiter lokalisiert. Das zweite ist eine Kreuzigungsszene von Lucas Cranach von 1503: Sie ist nicht nur ungewöhnlich durch die völlige Asymmetrie der Szene, sondern auch durch eine sehr extreme, pathetische Verzerrung der Figuren. Solche Form des körperlichen Ausdrucks in eine Sprache des Tanzes zu übersetzen, scheint eigentlich völlig abwegig und anachronistisch. Und doch ist es Forsythe und seinem Ensemble in diesem Stück gelungen und macht Sinn.

Denn vom Ergriffenwerden und Nicht-begreifen-Können, von der Erwartung und dem Berührtwerden, vom Staunen, von Furcht und von Ehrfurcht erzählt der bewegte erste Teil, eine halbstündige Gruppenchoreografie. Es sind die Gruppen derer, die in mittelalterlichen Bildern die Zeugen außerordentlicher Ereignisse darstellen, die hier von den Tänzern aufgenommen werden. Es gibt Momente, da glaubt man die Eiseskälte zu spüren, die diesen Figuren plötzlich in die Magengrube fährt, die Beschleunigung ihres Herzschlages, das Absacken des Kreislaufes.

Tief über der Tanzfläche hängt eine Decke aus Licht. Zu ihr geht der Blick der Tänzer immer wieder hoch, wenn sie niedersinken, gehalten von den Armen anderer hinter ihnen. Keine Musik, die sonst so oft für die Unterstützung der Emotionen zu sorgen hat, braucht dieser erste Teil. Der virtuose Bewegungsstil der Forsyhte-Tänzer, der von seinen Ursprüngen im Ballett schon einen langen Weg gekommen ist, und die virtuose Gestensprache einer noch sakral gebundenen Malerei verbinden sich zu einer ungewöhnlich starken inneren und äußeren Bewegtheit.

So wird der Verlust des Pathos thematisiert, ohne selbst pathetisch zu werden. Das ist mehr als ein Formexperiment. Die heftigen Emotionen scheinen uns fremd geworden, ein solcher Ausdruck von Erschütterungen nicht mehr unserer Zeit angehörig. Dabei liefert die Welt dafür noch allen Anlass, wie der zweite Teil verdeutlicht. So misst das Stück durch das Übereinanderschreiben zweier historisch unterschiedlicher Horizonte von Empfindungen und Empfindungsfähigkeit auch einen Verlust aus. Wir haben im Verlauf der Geschichte gelernt, mit Entsetzen, Furcht und Trauer anders umzugehen, vielleicht war das auch eine Notwendigkeit.

Es kommt nicht oft vor, dass Kunstwerke der Vergangenheit von Künstlern heute so genutzt werden, um etwas über unsere Befindlichkeit in der Gegenwart zu erfahren und mitzuteilen. Man findet solche Erkenntnisse vielleicht, wo sich Kunsthistoriker, Soziologen und Anthropologen zusammensetzen, um eine Geschichte der Gefühle zu schreiben. Aber selten so verdichtet in knapp einer Stunde Tanz und Theater auf der Bühne.