Im Kopf statt im Schredder

Das Projekt „AufLaden“ macht leere Läden im Viertel zu Kunst-Spielwiesen. Kuratorin Ele Hermel über Kunst als Platzverschwendung und virtuelle Fluchten aus der tristen Wirklichkeit

Vor Ableben noch eine Postkarte an die Lieben – und die Shoppingtour nicht vergessen. Brauchen kann man zwar nicht mehr, was man zusammenkauft, wenn man noch am gleichen Abend das Zeitliche segnet. Aber Urlaubsouvenirs kauft man ja auch nicht, weil irgend jemand sie braucht.

„Neapel sehen und sterben“ nennt Laila Seidel ihr fiktives Reiseprojekt. Traumreisende und Kunstfreunde können an ihrem Tresen eine Reise ohne Wiederkehr buchen. Wahlweise auch „Belfast sehen und explodieren“. Während sich Ethiker die Köpfe heiß reden über die Sterbehelfer von Dignitas, die von Hannover aus One-Way-Tickets in die Schweiz anbieten, hat die Studentin das große Thema so unbedarft wie spitzzüngig auf eine handliche Größe heruntergebrochen.

Das kleine virtuelle Reisebüro belebt einen leeren Ladenraum am Sielwall. Unter dem kalauernden Titel „Es gibt Reise, Baby!“ haben Studierende und Lehrende der Fachhochschule Ottersberg eine Ausstellung rund ums Weltenbummeln bestückt. „30 Prozent der Läden im Viertel stehen leer“, erklärt Ele Hermel, künstlerische Leiterin des Projektes „AufLaden“. Viele andere wechseln ständig ihren Besitzer. Das Ortsamt Mitte ist daher an den Kultur- und Bildungsverein Ostertor (KUBO) herangetreten. Die KUBO-Leute versprachen, diese „kulturellen Zahnlücken“, wie Ele Hermel sie nennt, zu plombieren.

„AufLaden“ spielt mit dem kommerziellen Charakter der Räume. Träumen vom Verschwenderleben in harten Zeiten ist erlaubt. Dazu verleitet nicht nur das virtuelle Reisebüro, sondern auch das Projekt „G.O.L.D.“, das am Samstag eröffnet wird. Jeder kann alte Scharteken vorbeibringen, die die Berliner Künstlerin Martina Becker mittels Acryllack vergoldet. Aus den so geadelten Fundstücken baut sie Maschinen und Objekte, die sich zu einem glänzenden Wunderland zusammenfügen. „Sie spricht fast nicht bei dem interaktiven Projekt“, verrät Ele Hermel. Die Vergoldungsaktion zeigt wortlos, wie wir uns die deprimierende Gegenwart schönreden.

Leer stehende Läden in Großstädten werden schnell zu einer Art Factory Outlets für Kunst, hat Hermel beobachtet. Künstler füllen sie mit ihren Lagerbeständen und hoffen auf Laufkundschaft. „Wir wollen keine Kunstkaufhäuser schaffen“, sagt die Künstlerin und Kuratorin. „Das ist mir zu materialistisch.“ In den Läden soll während der nächsten ein bis zwei Jahre „etwas passieren“, was das Viertel inspiriert. Das muss nicht im greifbaren Sinn Kunst sein: Auch eine Kochaktion für Kinder ist geplant.

Weg vom Objektlager, hin zur Kunst im Kopf des Betrachters – ein Bremer Trend? Seit Juni wabert das „Raummuseum“ virtuell durch die Stadt und erklärt das zum Exponat, was der Betrachter gerade sieht. Die Ausstellung „Not a drop, but the fall“ im Künstlerhaus stellte nur noch Schildchen aus, die Bilder muss sich der Kunstfreund dazu denken. Ele Hermel winkt ab: Der Trend zur Virtualisierung ist anderswo längst angekommen. „Sind wir provinziell, wenn wir einen Farbpott benutzen?“ Diese Debatte führe mittlerweile mittlerweile auch die Bremer Kunstszene. Die Galeristinnen Barbara Claasen-Schmal und Susanne Hinrichs seien hier Trendsetterinnen in Sachen virtuelle Kunst. „Meine beiden Lagerräume sind voll“, stöhnt Hermel. Die Mieten sind teuer heutzutage, und die Künstler bleiben auf ihren Objekten sitzen. Ein Kollege habe neulich eine ganze Fuhre auf dem Recyclinghof schreddern lassen. Und das war keine Kunstaktion. Wenn das kein Argument fürs Virtuelle ist.

Annedore Beelte

„Es gibt Reise, Baby!“, Sielwall 4, Di–Fr 15–19, Sa 14–18 Uhr, bis 18. 12. G.O.L.D., Vor dem Steintor 154, 10.–12., 15.–17., 20.–22.12., jeweils 12–19 Uhr.