Ewiger Zeugnisdruck

Vom beispielhaften Umgang mit den historischen Umbrüchen eines ganzen Jahrhunderts: Eine Ausstellung im Münchner Literaturhaus über die sechs Kinder von Thomas Mann

von SABINE LEUCHT

„Jemand wie ich sollte selbstverständlich keine Kinder in die Welt setzen“, vertraut Thomas Mann 1918 seinem Tagebuch an. Da ist sein sechstes gerade unterwegs: Michael, der ungeliebte, vom Vater als labil und reizbar beschriebene Sohn, der später über dem Versuch zerbrechen sollte, dessen Tagebücher herauszugeben. Aus seines Vaters Tagebüchern musste Michael Mann erfahren, dass der mittlerweile verblichene Pater Familias seinen Jüngsten gern abgetrieben hätte.

Die Zuneigungsbekundungen, die Thomas Mann seinen Kindern zuteil werden lässt, sind von unterschiedlichster Natur, wie auch ein kurzer Film in der Ausstellung „Die Kinder der Manns“ im Münchner Literaturhaus zeigt: Vor der Münchner Villa in der Poschinger Straße schwenkt er sein geliebtes „Mädi“ Elisabeth in der Luft, klapst er seinem heran galoppierenden Sohn Klaus soldatisch auf die Schulter, reicht er dem kleinen Golo kühl die Hand. Ob in den Briefen, Tagebüchern oder Filmen: Überall in dieser zum Verweilen und Entdecken verführenden Ausstellung weht der asketisch-disziplinierte Geist des „Zauberers“, wie ihn seine Sprösslinge nannten.

Dennoch ist die Ausstellung vor allem eine über die von diesem Geist geprägten Kinder geworden, die erste zudem über alle sechs. Klaus Mann sagt es voraus: „Was für eine sonderbare Familie sind wir! Man wird später Bücher über uns – nicht nur über einzelne von uns – schreiben“, und so zeigt die von Uwe Neumann konzipierte Ausstellung auch das ubiquitär Schillernde, das die Mann-Familie in eine Reihe stellt mit den Kennedys dieser Welt. Es geht in diesen „Ansichten einer Familie“ um deren fast beispielhaften Umgang mit den historischen Umbrüchen des knappen Jahrhunderts von der Geburt Erikas 1905 bis zu Elisabeths Tod 2002. Es geht aber auch um Wurzeln, die ein schweres Gewicht aushalten müssen. Denn wer wie Vater Thomas über seine mittlere Tochter urteilt: „Die Moni ist schalkhaft, nichts weiter“, der läge auch ohne Nobelpreis zentnerschwer auf der Zukunft dieses Menschen.

Man hört diese Äußerung mit anderen Bekenntnissen in der ersten von drei schwarzen Boxen, zwischen denen fröhlich bunte Stellwände und Manuskriptseiten nachgebildete Laminat-„Teppiche“ den familiären Jahrhundertzug in sieben Abteile gliedern. Mal urteilt Vater Thomas, mal Mutter Katia über den Nachwuchs – und ein insgeheimer Zeugnisdruck gegenüber der Nachwelt scheint darin schon anzuklingen. Diese ausnahmslos mit der Schriftstellerei befasste „amazing family“ (Erika) hat der Geschichtsschreibung ungewöhnlich viele Dokumente hinterlassen: kluge, schöne und beispiellos gehässige Briefe; Bücher, deren Figuren der Vater meist wenig schmeichelhaft nach Familienmitgliedern formt; zärtliche Widmungen und brutale Tagebucheinträge, die den Weg der sechs Kinder dokumentieren. So musste das Zweitjüngste 1935 in einem Maturaaufsatz etwa die Frage beantworten: „Soll das Leben möglichst reichhaltig sein?“

Dabei fing alles recht harmlos an: Preußischer Literat mit homosexuellen Neigungen landet durch die Heirat mit Katia Pringsheim im jüdischen Münchner Großbürgertum. Das Familienalbum enthält etliche Fotos von jener frühen Idylle, die in der liebevoll „Poschi“ genannten Villa, die in der Ausstellung als Modell steht, im Kindheitsparadies Bad Tölz und andere Feriendomizilen ihren räumlichen Ausdruck findet. Dann das allmähliche Lockern der Wurzeln: Erster Weltkrieg, Inflation, Hitler, Zweiter Weltkrieg, Exil, einige Tode, politisch engagierte Bücher – so öffnet sich das Private zur Weltgeschichte hin, so geht es von der Idylle in die Katastrophe und nur selten zurück.

In der zweiten Station der Ausstellung, nach Thomas Manns Erzählung „Unordnung und frühes Leid“ benannt, wirbeln Klaus und Erika gemeinsam durch die Zwanzigerjahre: Erikas kurze Ehe mit Gustaf Gründgens, die Anfänge des Kabaretts „Die Pfeffermühle“, Klaus’ literarischer Durchbruch, allerlei Ausschweifungen.

Nachdem sich die Familie 1933 in alle Winde zerstreut hat, stehen Golo, Erika und Klaus im Kriegseinsatz für die Alliierten, gründen die zwei Jüngsten Familien, sieht Monika ihren Ehemann ertrinken, als das Schiff untergeht, das sie nach Kanada bringen soll. Der Selbstmord des literarisch talentiertesten Mann-Kindes Klaus im Mai 1949 ist eine gewichtige Zäsur auch im Lebenslauf der Geschwister. Wie der Tod des Vaters sechs Jahre später ließ er vor allem Erika, wie sie selbst meinte, zum „Nachlassschatten“ erbleichen. Die von Thomas Mann so innig geliebte Elisabeth Mann-Borgese, deren Taufschale in München zu sehen ist, ging dagegen vergleichbar unbeschwert durchs Leben.

Dass man die literarische Begabung, den „Familienfluch“ (Klaus), beim „armen Mönle“ so spät erkannte; dass Michael erst nach dem Tod des Vaters die Geige gegen den Füller zu tauschen wagte; und dass Thomas Manns „Gnomenkönig“ Golo, der bekannte Historiker, lieber in einer „normalen, gesunden“ Familie aufgewachsen wäre – nichts davon wollte Frido Mann, Sohn Michaels und Schirmherr dieser gelungenen Ausstellung, verschwiegen wissen. Er zumindest scheint ein entspanntes Verhältnis zu seiner schwergewichtigen Familie zu haben.

„Die Kinder der Manns – Ansichten einer Familie“ ist bis 26. Februar 2006 im Literaturhaus München und danach im Lübecker Buddenbrookhaus zu sehen. Katalog: Rowohlt Verlag, 19,90 €