Mit den großen Augen der Erwartung

Roman Polanskis Verfilmung illustriert Charles Dickens’ „Oliver Twist“ mustergültig. Mit perfekter Patina und eindeutiger moralischer Mission

Mr und Mrs Sowerberry sind schlechte Eltern. Sie sehen im Kind nicht die auszubildende Persönlichkeit, sondern die auszunützende Arbeitskraft. Dabei haben sie aber durchaus ein Auge für Talent. In ihrem Gewerbe, der Leichenbestatterei, braucht es nicht nur Sargtischler, es braucht auch ein feierliches Gesicht, eine Unschuldsmiene, die vor dem Leichenzug einherschreitet. Der Waisenjunge Oliver Twist ist für diese Tätigkeit besonders geeignet. Das Leben hat ihm zwar übel mitgespielt, er geht aber mit den großen Augen dessen durch die Welt, der etwas erwartet, auch wenn statistisch gesehen seine Chancen schlechter nicht sein könnten.

Kinder hatten im 19. Jahrhundert einen anderen Stellenwert als heute. Davon handelt der Roman „Oliver Twist“ von Charles Dickens, ein Klassiker, der schon vor der aktuellen Adaptation durch Roman Polanski mehrmals verfilmt worden war. Wollte man diese Geschichte in der Gegenwart erzählen, müsste man den Ort der Handlung ändern. Polanski aber bleibt beim period picture. Sein „Oliver Twist“ spielt in einem pittoresken alten England. London ist eine verwinkelte Stadt, die aus wenigen Straßenzügen und langen Wegen dazwischen besteht. Hierher flieht Oliver Twist, weil ihm Mr und Mrs Sowerberry seine einnehmende Erscheinung krumm nehmen und ihn deswegen extra schikanieren. Auf den Straßen der Hauptstadt findet Oliver Twist (Barney Clark) schnell neue Freunde. Sie nehmen ihn mit zu ihrem Mentor, einem hässlichen, alten Mann namens Fagin (Ben Kingsley), der einer Wohngemeinschaft mit jugendlichen Dieben vorsteht. Der rohe Bill Sykes (Jamie Foreman) führt den anderen Zweig dieser kriminellen Erwerbsgemeinschaft, die Truppe, die größere Delikte verübt und mehr einnimmt als Brieftaschen und Riechflaschen. Leichte Mädchen ergänzen diesen perfekt arbeitsteiligen Betrieb.

Oliver Twist wird hier wieder als Arbeitskraft begriffen. Er bekommt eine Ausbildung als Taschendieb, während der es zu einer Panne kommt, die ihn vor Gericht bringt. Hier nimmt sein Schicksal die Wende, die der Roman und der Film in der zweiten Hälfte einholen müssen. Mr Brownlow (Edward Hardwicke) findet Gefallen an dem Jungen. Er nimmt ihn mit zu sich nach Hause, wo es Bücher gibt und eine Teezeremonie und viele bürgerliche Tugenden. Oliver Twist ist hier seinen Anlagen gemäß untergebracht. Jetzt muss er noch das Vertrauen von Mr Brownlow rechtfertigen. Die effektvollen Wendungen, die Charles Dickens dieser Geschichte eingeschrieben hat, muss Roman Polanski nur übernehmen. Er hält sich an seine Vorlage, weil es daran wenig auszusetzen gibt.

Die Rollen sind alle nach physiognomischen Kriterien besetzt – böse Männer sind besonders hässlich. Ben Kingsley spielt den zwiespältigen Mr Fagin mit weniger Infamie und mehr Empathie, als es dieser nicht selten mit antisemitischen Klischees durchsetzten Figur angestammt ist. Diese politische Korrektheit ist das Moment, durch das Polanski seinen „Oliver Twist“ am ehesten mit seiner Entstehungszeit vermittelt. Denn insgesamt ist dies ein völlig zeitloser Film, der in der Tschechoslowakei in den frühen Sechzigern genauso hätte entstehen können wie im England der Dreißigerjahre. So perfekt ist die Patina, so willfährig tragen die Gesichter ihre Masken, so eindeutig erfüllen sie ihre moralische Mission, dass „Oliver Twist“ als mustergültige Illustration des gleichnamigen Romans erscheinen muss. Wer vom Kino mehr erwartet, muss zum Buch zurück.

BERT REBHANDL

„Oliver Twist“. Regie: Roman Polanski. Mit Barney Clark, Ben Kingsley u. a. Großbritannien/Tschechien/Frankreich/Italien 2004