Situationistischer Drifter

Wie Botschaften zu Wirklichkeit werden und Realität entsteht: Pierangelo Masets Roman „Fabelwesen“

VON HARALD FRICKE

Eric Dert fährt Pakete aus. Das ist ein Job, der nicht viele Fähigkeiten erfordert, wie er selbst sagt, sondern bloß beste Ortskenntnisse, und die besitzt Dert fast wie im Schlaf, wenn er mit seinem Auto in Berlin unterwegs ist. Deshalb kann er sich auf den Touren auch ganz auf die Details seiner Umgebung konzentrieren, kann zum situationistischen Drifter werden, der im Stau über Plüschtiere meditiert, die mit Saugnäpfen an den Fenstern der anderen Verkehrsteilnehmer befestigt sind. Oder über die Perfektion im Automobildesign, die stets darüber hinwegtäuscht, dass man sich in einer tödlichen Maschine befindet, die stickige Abgase aussondert, und es, so Dert, erstaunlich macht, „was der Körper aushält“. Doch schon muss er wieder aufs Gaspedal treten, der Stau löst sich auf, und überhaupt hat ihm während des Stillstands eine Stimme im Radio ein paar Augenübungen empfohlen, die prompt funktionieren: „Sofort spüre ich eine Erleichterung, und der Körper reagiert.“

Der Ich-Erzähler, den Pierangelo Maset für seinen Debütroman „Klangwesen“ erfunden hat, ist selbst so ein Vehikel, ein Traum- und Transportwesen, das überall Eindrücke aufschnappt und als launige Kommentare beim Leser abliefert. Oder sollte man Dert lieber ein Medium nennen? Denn davon handelt „Klangwesen“ vor allem: Wie Botschaften zu Wirklichkeit werden, wie überhaupt jede Realität entsteht, indem Informationen interpretiert werden. Man kann diese Medienphilosophie im Sinne von Maset durchaus weiterspinnen, dann wäre die existenzielle, die alles entscheidende Frage diese: Wer sendet? Und wer empfängt?

Eric Dert hat sich entschieden. Es ist das Radio, das ihm vorgibt, wie er sich in seinem Leben einzurichten hat. „Meistens hilft es, wenn mich eine Radiostimme anspricht“, das ist nicht nur das Mantra, das Dert bei der Bewältigung des Alltags hilft. Immer meint dieses Ansprechen beides: Die physische Präsenz einer anderen Stimme und die Qualität dessen, was sie ihm mitzuteilen hat. Denn man interpretiert nur, was einem zusagt. Mal sind es Songs, die Dert auf irgendeinem Sender aufschnappt und deren Stimmung ihn stundenlang begleitet; dann wieder bastelt er zu Hause an eigenen Hörspielen, die er aus dem Wust von 188 eingeschalteten Transistorradios herausfiltert und zu Tonbandcollagen verarbeitet. Polizeifunk, verstreute Meldungen, ein Feature über Sigmund Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“.

Als Ergebnis einer solchen Cut-up-Seance entstehen Sätze wie „Bleiben Sie bis zu den Knöcheln im Monat Mai arbeitslos und beziehen Sie die Normalität bewusster Wähler mit ein!“ Das klingt nach dem Dada-Nonsens alter New-Wave-Texte, mit denen sich Maset eben auch gut auskennt. Schließlich hat er als Dr. Misch 1980 eine der ersten deutschsprachigen Rap-Platten herausgebracht. Trotzdem ist da noch mehr, eine grammatologische Verunsicherung, die sich durch alle Erzählstränge zieht.

Denn gemeinsam mit seinem Freund Ted setzt Dert die Statements in nicht minder bizarre Handlungen um, wenn die beiden in einem Uni-Seminar so oft „Nietzsche-wo?“ blöken, bis der Professor die vermeintlichen Spontis kurzerhand rausschmeißt. Dabei haben sie lediglich ihre Skepsis zur Sprache gebracht, oder wie Dert es formuliert: „Wir können Nietzsche jedenfalls nicht lesen, ohne gleichzeitig alle möglichen Verdachtsmomente gegen das Denken und die Denker zu äußern.“

Tatsächlich treibt Maset in „Klangwesen“ ein Verwirrspiel mit dem coolen Wissen der Philosophie. An jedem noch so kleinen Bedeutungsbrocken scheint bei ihm der Dekonstruktivismus zu nagen, jeder Zusammenhang verliert sich im Unwägbaren der Grübelei, das ist der Lohn zahlloser Lacan- und Derrida-Seminare. Zugleich weiß der Autor, wie schnell man einigermaßen subtextfeste Leser mit all dem Zeichenquatsch langweilen kann. Entsprechend ist „Klangwesen“ auch: ein charmant nostalgischer Nouveau Roman über das Leben in Westberlin, das sich zwischen Altbauwohnungen und Schöneberger Nachtbars abspielt, in denen konsequent mit D-Mark bezahlt wird. Und eine Lovestory, mit einer Frau allerdings, die Dert bloß als Stimme aus einer Radiosendung für einsame Herzen kennt. Zu einem Treffen kommt es nie, stattdessen schicken sich die beiden gegenseitig Text-Mix-Tapes und wetteifern darum, wer das Spiel mit den Botschaften wohl gewinnt.

Oder ist Derts Gegenüber selbst eine Fiktion aus dem Äther, die nicht Realität werden will? Im Roman lässt Pierangelo Maset seinem Erzähler nur eine Lösung für das Dilemma: „Ich werde die Geräte verkaufen.“ Zurück bleibt ein Raum voller Klänge, die auch beim zweiten Lesen noch merkwürdig im Kopf surren, immerhin.

Pierangelo Maset: „Fabelwesen“. Kookbooks Verlag, Berlin 2005, 158 Seiten, 17,90 Euro