Die Mehrheit sieht uns als Fremde

Der Kampf der Juden um kulturelle und religiöse Emanzipation, den Chanukka feiert, ist auch heute aktuell. Dies zeigt die Sehnsucht der nichtjüdischen Umwelt nach Normalität und „Weihnukka“

Es begab sich aber zu einer Zeit, vor 1933, da feierten manche – und vermutlich nicht wenige – jüdische Deutsche Chanukka unter dem Weihnachtsbaum.

Dieses Jahr fallen Weihnachten und Chanukka zusammen – wir zünden das erste Licht am 25. abends. Zugleich feiern auch romantische Geschichten vom „Weihnukka-Fest“ wieder fröhlich Auferstehung. Und das nicht nur in den „Tagesthemen“.

Das Jüdische Museum in Berlin widmet dem fiktiven Fest sogar eine Ausstellung. Statt der bei jüdischen Events sonst üblichen, vermeintlich authentisch Klezmer-Musik wird der Besucher von klassischer Weihnachtsmusik berieselt. Auch die sorgsam vor dem Museum aufgebauten Stände ähneln einem klassischen Weihnachtsmarkt. Die ganz traditionell dort angebotenen Sufganiot und Latkes wirken da eher als Alibi.

Da kommt der Verdacht auf: Jüdisches wird um so enthusiastischer zur Kenntnis genommen, je weniger es in der Realität vorkommt. Die „Weihnukka“-Ausstellung und -Diskussion sind kein Ausdruck lebendiger jüdischer Kultur, sondern spiegeln eine gefährliche Tendenz der Historisierung und Vereinnahmung des Judentums in Deutschland wider. Sie kommt der nichtjüdischen Sehnsucht entgegen, alle Widersprüche und Differenzen zwischen Judentum und Christentum aufzulösen. Ausstellenswert und diskussionswürdig scheinen so vor allem die Zeugnisse der jüdischen Religion, die weite Teile der heute hier lebenden Juden nicht mehr zu praktizieren bereit sind – ohne dass dies im Umkehrschluss hieße, praktizierte jüdische Religion und Chanukka wären hierzulande so gut wie tot.

Chanukka erinnert an einen Freiheitskampf – und handelt von einem Sieg zur politischen, religiösen und kulturellen Selbstständigkeit. Dieser Kampf um kulturelle und religiöse Emanzipation ist auch heute aktuell. Die Sehnsucht der nichtjüdischen Umwelt nach Normalität und „Weihnukka“ ist ein unübersehbares Indiz dafür.

Die Mehrheit der deutschen Gesellschaft sieht Juden auch heute noch – oder schon wieder? – als Fremde. Die eigene jüdische Identität wird von der Umwelt nur bedingt akzeptiert. Man sieht zuerst den Juden, kaum den Deutschen, noch seltener den Menschen.

Frühere Ideen von Assimilation hat die jüdische Gemeinschaft aus guten Gründen längst aufgegeben – aber längst nicht die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft. Ganz im Sinne der deutschen Aufklärung denken viele: Juden müssten aus der Bindung an ihr Kollektiv befreit werden, um sich zu emanzipieren und gleichberechtigt zu werden.

Dabei war und ist Assimilation stets ein hinterhältiges Denkmodell, insbesondere wenn es von der Mehrheitsgesellschaft oktroyiert wurde oder wird. Jeder sollte die Chance haben, seine eigene religiöse und kulturelle Art des Lebens fortzusetzen. Dies gilt nicht nur für Christen, Juden und Muslime, sondern für areligiöse Menschen gleichermaßen. Deutschland ist ein Land vielfältiger Kultur.

In diesem Sinne: Chag Chanukka Sameach und Fröhliche Weihnachten!STEPHAN J. KRAMER

Stephan J. Kramer 37, ist Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland