„Wir brauchen bewusste Bürger“

Öffentliche Bierflaschen und intellektueller Wirklichkeitssinn: ein Gespräch mit Ralf Lord Dahrendorf und Paul Nolte über die Bürgergesellschaft und ihre engagierten Intellektuellen, über Antibürgerlichkeit und die Bindungskräfte der Gesellschaft

INTERVIEW ALEXANDER CAMMANN

taz: Bürgerlichkeit ist wieder en vogue, nachdem sie seit 1968 immer wieder von Bürgerkindern attackiert wurde. Sind nach der Epochenscheide 1989 nur mehr bürgerliche Werte übrig geblieben?

Ralf Lord Dahrendorf: Das hat ganz sicher etwas mit 1989 zu tun. Auffällig sind jedoch nach wie vor die Schwierigkeiten, die deutsche Intellektuelle mit der Civil Society haben. Ich halte den deutschen Begriff „Zivilgesellschaft“ eigentlich für feige. „Zivilgesellschaft“ heißt offenbar auch die „nichtmilitärische Gesellschaft“, die zum Beispiel prinzipiell nicht in Irakkriege zieht. Hier wird „zivil“ gegen „militärisch“ gesetzt. Das ist eine Fehlübersetzung von Civil Society, die mich beunruhigt. „Bürgergesellschaft“ wäre korrekt. In anderen Ländern des Westens gibt es eine begriffliche Differenzierung, die es in Deutschland nicht gibt: zwischen Bourgeois und Citoyen. Eines bleibt aber entscheidend für den Typus des Bürgers: Seine Position ist nicht abgeleitet vom Staat, sondern eine eigene, selbstbewusste Haltung. Es gibt zudem regionale Unterschiede hierzulande: Die Bürgertradition Hamburgs oder auch Württembergs ist woanders weniger ausgeprägt. Üblicher ist das Bürgerliche heute im Ganzen jedoch schon geworden.

Paul Nolte: Nach 1945 gab es die Tendenz hin zu einer starken Mitte in Deutschland. Diese Mitte war zunächst kleinbürgerlich, heute manchmal sogar neoproletarisch. Im Extremfall gehören zu dieser Mitte auch Verhaltensphänomene einer neuen Unterschicht. Und weil diese Mitte in ihrem Habitus nach unten durchgereicht worden ist, taucht als Gegenbewegung die Neubetonung des Bürgertums wieder auf. Man will es, kritisch-selbstkritisch gesprochen, wieder elitärer profilieren. Diese Kontroverse haben wir im Moment: Wie elitär oder wie inklusiv wollen wir das Bürgerliche? Dabei spielt in meiner Generation – ich selbst habe da aber keine Affekte – das Bedürfnis nach Abgrenzung von den scheinbar antibürgerlichen 68ern eine Rolle.

Dahrendorf: Es gibt bei 18- bis 20-Jährigen heute eine auffällige Spaltung: die eine Hälfte bleibt in der Schlammwelt, und die andere sucht ein neu geformtes Dasein. In dem kleinen Ort im Schwarzwald, wo ich ein Haus habe, verbringt die eine Hälfte der jungen Leute die Nachmittage im Park mit Trinken, die andere Hälfte engagiert sich in Vereinen und übt Instrumente.

Aber verstärkt nicht die Neubetonung des Bürgerlichen die gesellschaftliche Spaltung?

Nolte: Sicher, diese neuen elitären Bürgerlichkeits- und Bildungsdiskurse könnten auch dazu führen, dass sich diese Kluft noch verstärkt. Es kommt daher auf die Instrumente an, jene 50 Prozent, von denen Lord Dahrendorf sprach, Zivilisierungseffekten auszusetzen und den Weg in die bürgerliche Gesellschaft zu ermöglichen.

Sie haben Ihre fürsorglichen Instrumente für die Unterschichten schon öfter ausgepackt: Vollkornbrote statt Fastfood, weniger Fernsehen, stärkere erzieherische Aufsicht. Das klingt patriarchalisch und nicht nach der Liberalität einer offenen Gesellschaft.

Nolte: Liberalität scheint mir weitgehend missverstanden worden zu sein als Laisser-faire, also nicht als eine Liberalität der selbstständigen Lebensführung, sondern eines hyperindividualistischen Hedonismus. Und die Forderung nach besserer Ernährung hat damals immerhin rasch die rot-grüne Regierung erreicht, Renate Künast machte sich das laut zu Eigen. Die Frage von Ernährung und Verhalten ist eine Klassenfrage. Weil es politisch inopportun erschien, wurde die Frage, welche Schichten nicht erziehen und sich falsch ernähren, lange nicht gestellt.

Wenn ein in Bielefelder Gesellschaftstheorie geschulter Wissenschaftler sich die Lösung sozialer Missstände von richtiger Ernährung erhofft, erstaunt das doch.

Nolte: Die Bearbeitung sozialer Probleme muss nicht immer mit Großtheorien beginnen, die sich oft als praktisch folgenlos erweisen. Gesellschaftstheorie darf auch an der Lebensrealität beginnen. Im Übrigen geht es nicht darum, Brotsorten vorzuschreiben, sondern die Fähigkeit zu stärken, selbst vernünftige Entscheidungen treffen zu können.

Lord Dahrendorf, wie liberal kann man denn heute noch sein?

Dahrendorf: So liberal wie möglich! Im Ernst: Es kann sein, dass ich am Ende, wenn das, worüber wir jetzt reden, praktisch wird, weniger Wert lege auf Interventionen im Sinne Herrn Noltes. Noch kann ich ihm weitgehend folgen. Bleiben wir in meinem Schwarzwaldort: Es ist gar nicht so leicht, was man eigentlich denjenigen für Perspektiven bieten kann, die mit der Bierflasche rumhängen. Selbst ich als Liberaler würde das öffentliche Trinken verbieten. Es gibt eine große Zahl von jungen Leuten, die überhaupt nicht mehr ohne Bierflasche ausgehen.

Auch im Schwarzwald?

Dahrendorf: Natürlich, in kleinen Orten fällt es sogar stärker auf.

Nolte: Dieser unbürgerlicher Habitus hat in Deutschland stark zugenommen. Unbürgerlichkeit reicht bis hin zu Körperinszenierungen und wird als Stilmittel eingesetzt: Tattoos und Piercing als Abgrenzungsinstrument.

Was soll an solchen ästhetischen Phänomenen problematisch sein?

Nolte: Das wissen wir spätestens seit Bourdieu: Sie reflektieren nicht nur Individualität, sondern erzeugen Klassenunterschiede.

Wo lässt sich dann die neue Bürgerlichkeit überhaupt feststellen?

Nolte: Denken Sie an die unzähligen Golfplätze, die in der Umgebung von Berlin entstehen. Es gibt das Bedürfnis, klassische Formen wieder zu entwickeln, wie beispielsweise die Salonkultur. Es sind also parallele Phänomene: Unbürgerlichkeit und neue Bürgerlichkeit. Wir müssen dabei einen kritischen Blick auf die Mittelschichten werfen: Bürgerliches Engagement ist in Baden-Württemberg viel häufiger als in Norddeutschland, wo es nicht selbstverständlich ist, seine Freizeit für die Caritas oder die Freiwillige Feuerwehr zu opfern. Daher ist für mich diese neue Bürgerlichkeit auch sehr begrenzt, weil sich eher individuell verwirklicht wird, statt mehr für die Gesellschaft zu tun.

In der Politik stehen die Bayreuth-Besucher Köhler, Merkel und Westerwelle für neue Bürgerlichkeit – wobei Letzterer auch unbürgerliche Momente bei „Big Brother“ hatte …

Dahrendorf: Ein Beispiel für die Orientierung nach unten, wenn man so will.

Auffällig ist bei diesen dreien ihr Ökonomismus, also eine reduzierte Bürgerlichkeit, bei der Wertfragen unter den Tisch fallen.

Dahrendorf: Es ist doch sehr wünschenswert, wenn in einem Land, in dem Bürgerlichkeit stark durch Beamtentum und Fixierung auf den Staat dominiert war, nun ein paar Figuren auftauchen, die sich in einer wirtschaftlich geprägten Welt zu Hause fühlen. Ich finde das eine durchaus erfreuliche Tendenz. Das wird für Angela Merkel vielleicht nicht in demselben Maße wie für Horst Köhler gelten.

Köhler war auch viele Jahre Spitzenbeamter im Bundesfinanzministerium.

Dahrendorf: Das ist richtig, aber seine Orientierungen waren ökonomisch. Sie spüren immer wieder, wie stark ihn seine Zeit beim IWF in Amerika geprägt hat. Meiner Meinung nach ist die gesellschaftliche Prägung durch Ideen und Normen der Wirtschaft in Deutschland noch viel zu gering.

Wie verbürgerlicht sind die Grünen, deren Wählerschaft mittlerweile die einkommensstärkste von allen Parteien ist?

Nolte: In der grünen Bürgerlichkeit fühlen sich viele Angehörige meiner Generation wohl, weil die Grünen diesen sozialen Touch besitzen, einen Empathiefaktor. Sie vertreten Werte, die man in der scheinbar kalten, nackten, technisch-ökonomisch-bourgeoisen Bürgerlichkeit von FDP und CDU nicht findet. Strategisch ist es an der Zeit für eine schwarz-grüne Koalition: Das wäre für mich der Testfall, ob das Zusammengehen von zwei Bürgerlichkeiten auch politisch gelingt.

Momentan scheint in den säkularisierten Gesellschaften des Westens die Religion zurückzukehren. Selbst Jürgen Habermas entdeckte 2001 den Glauben, diskutierte 2004 mit Kardinal Ratzinger. Den liberalen Lord Dahrendorf kann man sich bei einem solchen Glaubensgespräch unter Generationsgenossen nicht so recht vorstellen.

Dahrendorf: Ich bin nun wirklich in religiösen Dingen unmusikalisch, um diese Formulierung Max Webers aufzunehmen. Ich bin – wie alle nicht getauften Menschen – eher berührbar durch katholische als durch protestantische Riten, weil sie intensiver sind und daher als etwas, was nicht Teil von mir ist, einen größeren Eindruck machen. Aber trotzdem spielt der Glauben bei mir keine Rolle. Habermas ist bekanntlich durchaus empfindlich in der Interpretation seiner eigenen Positionen, weil er nicht gerne verwechselt werden möchte mit dem späten Max Horkheimer, der ja auch die eine oder andere Wandlung erlebte. Bei mir gibt es jedenfalls keine Chance, dass ich eines Tages anfange zu sagen: Religion – eigentlich doch!

Aber auch wenn ich religiös unmusikalisch bin, betone ich seit langem, dass zur Bürgergesellschaft auch bestimmte Formen der Bindung, Solidarität stiftende Elemente, gehören. Das ist für mich ein schwieriges Thema; ich habe auch immer gezögert bei dem, was ich darüber schreibe. Ich habe für Bindungen dieses Wort „Ligaturen“ verwendet, in dem mindestens ein Teil der sprachlichen Wurzel enthalten ist, die auch in „Religion“ steckt. Sie sehen: Ich bin zwar religiös unmusikalisch, aber nicht unempfindlich.

Nolte: Ich habe mich oft gefragt, wo diese Dahrendorf’schen Ligaturen herkommen sollen. Wer stiftet sie? Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das Problem klassisch formuliert: „Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Es ist die Frage nach den Ressourcen und den Werten, die Böckenförde hier stellt, den man auch als „linken Konservativen“ bezeichnen könnte. Es hat sich zuletzt so etwas wie eine „böckenfördische Linke“ konstituiert, zu der in gewisser Weise auch Habermas gehört: Sie übersetzt Böckenfördes Frage und versucht sie zunächst einmal säkular zu beantworten. Dann taucht Religion als Ressource für die Gesellschaft auf, wie zum Beispiel in der Friedenspreisrede von Habermas.

Erzeugt Glauben heute noch gesellschaftliche Bindungskräfte?

Nolte: Wenn wir die Frage nach den Ligaturen stellen in einer Welt, in der Bindungen eine geringere Rolle spielen, kommen wir an einem Gespräch über Religion nicht vorbei. Neben dem Glauben als Reflexionsressource existiert Kirche auch als Institution der Bürgergesellschaft. Denn auch wenn alle großen Massenorganisationen erodieren, auch die Kirchen, erleben wir ja da eine paradoxe Renaissance: Kardinal Lehmann und Bischof Huber tauchen in der Öffentlichkeit häufig auf; es gibt an der Basis immer noch die Kirchengemeinde, die die Menschen in bürgerschaftliches Engagement hineinführen. Man muss nicht religiös sein, um eine starke Kirche im Sinne der Bürgergesellschaft zu wünschen.

Dahrendorf: Ich denke im Moment viel über Böckenfördes Sentenz nach, zuletzt im Zusammenhang mit dem gescheiterten Europäischen Verfassungsvertrag und dem Gottesbezug in dessen Präambel. Ich bin nicht sicher, ob der Katholik Böckenförde Recht hat. Ich halte es für möglich, dass ich bei angestrengtem Nachdenken zu einem anderen Schluss komme als er. Civil Society mit Bindungen kann eben doch entstehen im Verfolg der Schaffung von Institutionen der liberalen Ordnung – John Locke statt Böckenförde sozusagen.

War die Entdeckung der Ligaturen in den 1970er-Jahren Ihre konservative Kehre – weitaus früher als bei Habermas –, nachdem Sie jahrzehntelang den Deutschen beibrachten, ihre Konsensfixiertheit abzustreifen und endlich Konflikt zu lernen?

Dahrendorf: Ich glaube, ich habe eine frühe Einseitigkeit meines Gesellschaftsbildes durch das Nachdenken über Bindungen korrigiert. Dass Freiheit im Konflikt besteht, würde ich jedoch immer noch behaupten.

Nolte: Gerade hier in Deutschland haben wir immer noch ein Konfliktdefizit. Es müsste nur jemand kommen, der noch einmal zeigt, wie wir gleichzeitig mehr Konflikt lernen können und andererseits auch Ligaturen schaffen, wie wir beispielsweise über die tot gelaufene Kontroverse zwischen Liberalismus und Kommunitarismus hinauskommen können.

Für Konflikte in der Gesellschaft sind auch die Intellektuellen zuständig. Sie beide gehören zu dieser Spezies: Wissenschaftler, die sich in die öffentlichen Debatten einmischen.

Dahrendorf: Es ist in der Tat eine Haltung, die mir zentral scheint. In kritischen Situationen ist sie besonders wichtig, in normalen Zeiten nicht im selben Maße, aber auch da hat sie ihre Bedeutung. Ja, ich sehe mich als „public intellectual“; als solcher hat es mir nie gereicht, nur in meiner Community zu wirken.

Aber hat nicht der Bedarf an Intellektuellen abgenommen, weil es die großen Ideen nicht mehr gibt?

Dahrendorf: Demnächst erscheint mein Buch „Versuchungen der Unfreiheit“, das die Intellektuellen in totalitären Zeiten untersucht. Mich interessieren diejenigen, die nicht versuchbar waren – und warum sie es nicht waren. Ich arbeite bestimmte Tugenden heraus, die zu dieser „Nicht-Versuchbarkeit“ gegenüber totalitären Verführungen geführt haben und die Immunität erzeugt haben.

Hat der Intellektuelle heute seine Rolle ausgespielt? Ich wäre da mit Prognosen sehr vorsichtig. Ich behaupte zwar nicht, dass der Totalitarismus hinter jeder Ecke lauert. Aber der militante Islam ist schon eine ähnliche Gefahr. Deshalb ist die Position des aktiven, öffentlichen Intellektuellen keineswegs unaktuell. Wenn man sich dabei sowohl gegen den Relativismus als auch gegen Anfälligkeit für Versuchungen deutlich abgrenzt, bleibt nach meiner Meinung eine wichtige Funktion für Intellektuelle. Ich will zwar auch nichts überschätzen, aber ich wäre mit vorzeitigen Abgesängen vorsichtig.

Herr Nolte, haben Sie nicht das Gefühl, mit Ihrem öffentlichen Engagement ein Auslaufmodell zu sein? Viele Ihrer Sorte gibt es nicht mehr.

Nolte: Ich fühle mich zwar manchmal überlastet, aber einsam denn doch nicht; es gibt schon Mitstreiter. Doch früher waren die Zuordnungen klarer: Es gab den Raum der Universität, in der die Köpfe der Generation Dahrendorf sich konzentriert haben. Heute dagegen sind viele hochbegabte Leute in den Journalismus gegangen. Das sind ebenfalls bedeutende Intellektuelle meiner Generation, nur eben keine Professoren-Intellektuelle. Ich glaube im Übrigen nicht, dass mit größerem zeitlichem Abstand zum Weltbürgerkrieg die öffentlichen Aufgaben des Intellektuellen geringer werden.

Obwohl der Kampf der Ideen weniger heftig hin und her wogt?

Nolte: Es gibt kaum noch flaggenschwenkende Lagerintellektuelle, sicher. Aber darin sehe ich für die Urteilskraft unserer Generation nur Vorteile.

Dahrendorf: Vor Jahrzehnten standen sie sich immer gegenüber und befehdeten sich auf das heftigste: auf der einen Seite Russel und Sartre, auf der anderen Aron und Arendt. Diese Art der Auseinandersetzung gibt es im Augenblick glücklicherweise nicht. Aber sie könnte es irgendwann durchaus wieder geben.

Lord Dahrendorf wagte auch den Schritt vom politischen Intellektuellen zum intellektuellen Politiker: 1969 als parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt in das Kabinett Brandt-Scheel, danach als EG-Kommissar. Herr Nolte, wäre das auch für Sie denkbar?

Nolte: Niklas Luhmann hat mal gesagt, weniger als Intellektueller oder als Professor, vielmehr als Staatsbürger sollte man sich dem nicht entziehen. Die Politik leidet nicht zuletzt unter den Gestalten, die seit dem 17. Lebensjahr nichts anderes mehr machen als Politik. Wir brauchen einen immerwährenden Elitentransfer: Wenn ein Unternehmer wie Hans-Olaf Henkel Präsident der Leibnizgemeinschaft für Forschungsinstitute wird, warum soll nicht ein Historiker oder Soziologe nun nicht gerade ein Unternehmen führen, aber stattdessen Politik machen?

Nicht viele Akademiker Ihrer „Generation Reform“ hätten Lust auf Politik.

Nolte: Ich finde das aber wichtig. Wir sind eine sehr stark politisch sozialisierte Generation, die sich heute immer noch für politisch hält, weil sie die öffentlichen Angelegenheiten aufmerksam verfolgt. Aber die meisten unterliegen der Illusion, mit dieser reflektierten Passivität noch nach außen zu wirken. Es gibt einen diffusen Konsens im Milieu, wonach man irgendwie Links-Grün-Mitte positioniert ist. Aber im Grunde ist das Politische fast schon zur belanglosen Zone des Unaussprechlichen geworden; nicht mal im Freundeskreis spricht man mehr darüber.

Ihre Generation, Lord Dahrendorf, hat die bürgerliche Gesellschaft des Westens hierzulande verankert und war damit eminent erfolgreich. Ist diese klassische Rückschau-Perspektive zu harmonisch?

Dahrendorf: Wenn man älter wird, wird man auch gnädiger. Da fallen dann die heftigen Auseinandersetzungen nicht mehr so ins Gewicht. Die Konflikte waren schon damals nur bedingt relevant. Im Nachhinein sehe ich sie mit großer Gelassenheit, mit größerer Gelassenheit übrigens als manche andere.

Ist diese Erfolgsgeschichte ei-ne Last für die Nachgeborenen?

Nolte: Nein, als Last würde ich das nicht empfinden. Ich hatte doch das Glück, noch direkt von dieser Generation selber zu profitieren. Als studentische Hilfskraft bei Hans-Ulrich Wehler konnte ich miterleben, wie der Historikerstreit buchstäblich verfertigt wurde: „Kopieren Sie mal diesen Aufsatz“, „Besorgen Sie mir mal die Rezension von Ernst Nolte“ etc. Insofern ist es auch – pathetisch formuliert – ein Auftrag, das Erbe dieser Generation am Leben zu halten.

Lord Dahrendorf, gibt es denn ein fortzuführendes Erbe Ihrer deutschen Intellektuellengeneration?

Dahrendorf: Es ging uns allen um die Entdeckung der Wirklichkeit nach einer ideologischen Zeit. Das war sicher eine Erfolgsgeschichte. Vielleicht ist das die wichtigste Leistung unserer Generation: die Etablierung des Wirklichkeitssinns hierzulande.