Hier spricht die Macht

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für die Unterlegenen: Die französische Debatte über die kolonialistische Vergangenheit hat über die Landesgrenzen hinaus Bedeutung. In Frage steht, ob Gegengeschichte noch als Diskurs der Opfer funktioniert

Was Foucault „Jupiterhistorie“ nannte, soll wieder etabliert werden: eine Geschichte, die die Rede der Macht ist

VON ISOLDE CHARIM

Wie ein Echo der Jugendunruhen in den französischen Banlieues nehmen sich die jüngsten Auseinandersetzungen um den Umgang mit der eigenen Kolonialgeschichte aus. Wobei diese Debatte weit über die spezifisch französische Problemlage hinaus Relevanz hat. Denn auf der einen Seite finden sich hier jene konservativen Kräfte, wie sie überall in Europa auf dem Vormarsch sind, die versuchen, die eigene Geschichte umzuschreiben. Im Falle Frankreichs betrifft das die koloniale Vergangenheit, die laut einem neuen Gesetz nunmehr an den Schulen eine „positive“ Darstellung erfahren soll. Auf der anderen Seite aber stehen mittlerweile nicht nur linke politische Kräfte.

Kürzlich haben sich auch jene zu Wort gemeldet, die professionell die Vergangenheit verwalten. Eine Gruppe von namhaften französischen Historikern – unter ihnen Pierre Nora und Pierre Vidal-Naquet – hat ein Aufsehen erregendes Manifest unter dem programmatischen Titel „Freiheit für die Geschichte“ veröffentlicht. In diesem etwas aus der Mode gekommenen literarischen Genre versuchen sie, ein Terrain der Geschichtswissenschaften abzustecken, das sich wesentlich gegen Politik und Recht abgrenzt. So ist der Text in Paragrafen unterteilt, die mit deklamatorischer Geste auflisten, was Geschichte nicht ist: Sie ist keine Religion, keine Moral, keine Sklavin der Autorität, kein Gedächtnis und kein Rechtsgegenstand. Ex negativo entsteht dabei das Bild einer offenen, voraussetzungslosen, unparteiischen und insofern freien Geschichtsschreibung. Eine sympathische Intention. Doch stellt sich die Frage, ob sie den heute dringlichen Fragen angemessen ist.

Der erste Tusch behauptet: Geschichte sei keine Religion. Historiker dürften kein Dogma und kein Tabu akzeptieren. Das klingt für uns selbstverständlich. Selbst die Tiraden des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad werden in der Hinsicht anerkannt, dass wir angeblich an den Holocaust eher glauben als etwa an Jesus Christus, wie die Berliner Zeitung meint. Aber gerät da nicht etwas durcheinander? Ist unser Bezug zum Holocaust tatsächlich ein Glaube? Ist das Urteil über die Kolonialgeschichte ein Dogma, dem man sich unterwirft? Selbst die taz hat im Gefolge des Historikermanifestes die gesetzliche Beschönigung des Kolonialismus ebenso wie das Gesetz, das die Leugnung des Holocaust verbietet, als „solche Dogmen“ bezeichnet.

Wann aber taucht ein Wort wie „Dogma“ auf? In welchem Augenblick kritisiert man die Geschichte als „Religion“? Paradoxerweise genau dann, wenn sich ein Wandel in den Überzeugungen anbahnt. Genau in dem Moment, wo die bisherigen Grundsätze brüchig zu werden beginnen, wo man nicht mehr daran „glaubt“. Wie aber glaubt man an die Geschichte? Indem man einen Bezug zu ihrer stiftenden Funktion hat, der derzeit überall in Europa in Frage gestellt wird. Man muss aber festhalten: Geschichte ist nichts weniger als eine Religion – obwohl sie eine grundlegende Funktion für unsere Gesellschaftsordnungen hat. Diese entsteht dort, wo man es mit einem historischen Bruch zu tun hat. Das Ende des Zweiten Weltkriegs oder das Ende der Kolonialreiche sind solche Brüche, aus denen die nachfolgenden gesellschaftlichen Formationen hervorgehen.

Bruch bedeutet damit eine Bestimmung ex negativo an der vorangehenden Epoche. Mit ihrem Historischwerden erfährt eine Zeit einen Wandel ihrer Wertigkeiten. Wir reden hier nicht von Geschichte im allgemeinen, sondern von jener Geschichte, die noch unmittelbare Bedeutung für die Gegenwart hat. Dieser Bruch ist nicht nur ein historischer, sondern auch ein politischer, und genau darin besteht seine stiftende Funktion: nicht als subjektives Gedächtnis, sondern als Grundlegung unserer gesellschaftlichen Ordnungen.

Das Historikermanifest hält dagegen aber fest: Die Geschichte sei nicht die „Sklavin der Aktualität“. Der Historiker dürfe der Vergangenheit nicht die „ideologischen Schemata der Gegenwart“ aufdrücken. Da stellt sich doch die Frage: Von wo aus sprechen sie? Von welchem Ort aus, wenn nicht aus der Aktualität? Kann man unhistorisch Geschichtswissenschaften betreiben, kann man unpolitisch auf die Zeitgeschichte blicken? Verhält es sich nicht genau umgekehrt? Ist es nicht vielmehr so, dass die historischen Schemata unsere Gegenwart prägen? Wir verhandeln Fragen der Kolonialgeschichte oder den Holocaust nach deren Ende, das gleichzeitig der Beginn unserer politischen Ordnungen ist. Wir leben nach wie vor in postkolonialen bzw. in postfaschistischen Gesellschaften, insofern diese sich gegen jene konstituiert haben.

Angesichts dieser politischen Dimension wird auch die Frage nach der gesetzlichen Handhabung schwierig. Das Manifest deklariert kategorisch: Geschichte sei kein Rechtsgegenstand. Weder Parlament noch Justiz haben die geschichtliche Wahrheit zu definieren. Das ist sicher richtig, und trotzdem lässt sich dem nicht so einfach zustimmen. Denn Grundlage für die Forderung der Abstinenz des Staates ist die Kategorie der Meinungsfreiheit. Der aktuelle exemplarische Fall dafür ist der britische revisionistische Historiker David Irving. Dessen Verhaftung in Österreich aufgrund des NS-Verbotsgesetzes hat für Aufsehen gesorgt. Nicht nur Rechte lehnen sie ab. „Lasst Irving reden“, lautet die liberale Kampfparole.

Aber bevor man für oder gegen solch einen staatlichen Eingriff ist, sollte man die Frage stellen, ob das Problem überhaupt auf diese Weise abgehandelt werden kann. Ist Revisionismus eine Meinung? Eine Meinung ist eine Haltung für oder gegen etwas, das verhandelbar ist, über das man abstimmen kann. Es bedarf also eines vorgängigen Konsenses aller, was einer Meinungsbildung zur Disposition steht. Entgegen einem liberalistischen Missverständnis ist die Grundlage der Meinungsfreiheit nicht eine uneingeschränkte Freiheit – sie ist sowieso eine Illusion –, sondern eine Freiheit innerhalb eines abgesteckten Rahmens.

Diese Grenzen steckt das Recht ab, das heißt die zu Gesetzen geronnenen grundsätzlichen gesellschaftlichen Entscheidungen. Das sind die Koordinaten eines demokratischen Gesellschaftssystems. Sie eröffnen erst das Feld, innerhalb dessen sich gegensätzliche Meinungen gegenüber stehen können. Die Verharmlosung des NS-Regimes hingegen ist keine Meinung, die man haben kann oder auch nicht. Zu einem anerkannt verbrecherischen Regime hat man keine Meinung. Eine Meinung dazu kann nur jener haben, der den Charakter des NS-Regimes für diskutierbar hält.

Trotz aller dieser Punkte haben die französischen Historiker natürlich Recht, sich gegen das Gesetz zur positiven Darstellung des Kolonialismus zu wehren. Nur scheinen ihre Argumente die falschen. Denn während sie monieren, die Geschichte sei – generell – keine Moral, muss man festhalten, dass es eine grundlegende Differenz zwischen diesem Kolonialgesetz und dem NS-Verbotsgesetzen gibt. Dieser Unterschied lässt sich nicht auf eine Frage der Moral reduzieren. Wenn das Manifest behauptet, die Rolle des Historikers sei es weder zu „preisen noch zu verdammen“, von welchem Geschichtskonzept versuchen sie sich da abzugrenzen? Von jenem, dessen Funktion es ist, die Macht darzustellen. Diese Art der Historie, die ein Ritual zur Stärkung der Souveränität ist und deren Funktion darin besteht, die Einheit einer Nation oder eines Staats herzustellen, nennt Michel Foucault „Jupiterhistorie“. Nun ist es aber so, dass dieses Geschichtskonzept längst nicht mehr vorherrschend ist. Seit dem Verlust der alten Souveränitäten – also mit dem Ende der Weltkriege und mit dem Ende der Kolonialreiche – hat sich diese Funktion der öffentlichen Erinnerung grundlegend verändert. Die Geschichtserzählung stellt nicht nur keine Einheit mehr her, sondern zerreißt die Gesellschaften vielmehr.

Statt der Geschichte der Starken, der Sieger, betreiben wir längst ein doppelgesichtige Historie, die den Triumph der einen als Unterwerfung der anderen zeigt. Gegenhistorie nennt Foucault diese Perspektive der Opfer, der Unterlegenen. Dieser Diskurs, der immer die Geschichte von einem Bruch ist, diese Gegengeschichte ist es, die längst unser Bewusstsein prägt.

Wovon distanziert sich das Manifest also? Die Gegenhistorie war immer ein Oppositionsdiskurs, der Einspruch gegen die Macht erhebt. Er konnte aber von Rechten ebenso wie von Linken benutzt werden, er diente Revolutionären ebenso wie Kolonisatoren. Was wir aber derzeit in Europa erleben, ist etwas Neues: Da die Gegenhistorie vorherrschend ist – wie etwa das NS-Verbotsgesetz oder die bisherige Beurteilung der Kolonialgeschichte belegen –, versuchen nun konservative Kräfte diese Hegemonie zu brechen, indem sie den Diskurs der Gegenhistorie benutzen, um erneut eine Jupitergeschichte, eine Geschichte, die die Rede der Macht, der Souveränität ist, zu etablieren.

Anders gesagt: Der Revisionismus versucht, die Heldengeschichte, die Jupiterhistorie als Einspruch, als Gegenhistorie zur vorherrschenden Gegenhistorie durchzusetzen. Auf dem Spiel steht die Funktion der Geschichte. Das Manifest der Historiker ist nur ein Symptom dafür.