In der Panik leben

Die Menschenähnlichen sind auch nicht glücklicher als wir. „Replacement“, ein Schauermärchen der Choreografin Meg Stuart an der Volksbühne Berlin

„Replacement“ handelt vom Wahn, die Welt verbessern und noch einmal alles auf Anfang stellen zu können

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

„Wenn noch jemand Ideen für Experimente hat, ich stehe zur Verfügung.“ Mit diesem Satz endet das Stück „Replacement“ der amerikanischen Choreografin Meg Stuart und könnte gleich wieder von vorne beginnen. Denn vom unverbesserlichen Wahn des Menschen, die Welt verbessern und noch einmal alles auf Anfang stellen zu können, erzählt der ganze Abend. Was dabei herauskommt, wissen wir eigentlich, seit Doktor Frankenstein sein trauriges Monster auf die Beine stellte. Ihm und den Heerscharen seiner Nachkommen, die als künstliche Menschen, Untote und Replikanten ihr Unglück vor allem über Kinoleinwände tragen, ist „Replacement“ gewidmet.

Vier Frauen und vier Männer wandern in diesem Theater der unglücklichen Körper, das jetzt an der Volksbühne Berlin herauskam, durch die experimentellen Szenarien. Ihre bunten Stiefel, engen Hosen, kurzen Kleider, Haarschnitte und Schnauzbärte lassen sie ein wenig aus der Zeit kommen, als besonders der Drogentrip das Experiment am eigenen Körper möglich zu machen schien. Aber jeder Trip ist hier nicht nur Flucht, sondern zugleich Objekt ständiger Kontrolle. Oft sitzt einer des Teams am Rande der Bühne und dirigiert: Kannst du diesen Gang wiederholen, jene Aggression verschärfen?

Diese Überwacher verkörpern einerseits das kalte Auge des Wissenschaftlers, dessen Methoden sich, wie Texte, Videos und Fotografien hier behaupten, kaum von denen von Folterern unterscheiden – dieser pauschale Kulturpessimismus ist dann doch etwas abgestanden. Andererseits aber spiegelt Meg Stuart in dieser obskuren Wissbegierde und Machtbesessenheit auch die Figur des Künstlers, der die Bühne als großes Labor begreift.

Das ist gerade an der Volksbühne Berlin ein heikler Punkt. Das Aufkochen der eigenen Befindlichkeiten, um zu einer anderen Wahrhaftigkeit vorzudringen, gehört zum Mythos des Hauses. Insofern hat Meg Stuart, die zusammen mit dem Regisseur Christoph Marthaler einen Schwerpunkt ihrer Produktionen von Zürich nach Berlin verschoben hat, um das Volksbühnenteam zu verstärken, schon Anlauf genommen, ganz spezielle Instrumente für diesen Ort zu entwickeln. Allein dieser kritische Ansatz versumpft und versickert wie so manche analytische Aufrüstung des Abends in einem verwaschenen Bild von Untergang und Panik.

Dabei kann Meg Stuart durchaus als Expertin für die Erforschung von Extremsituation und ihrer differenzierten Vermittlung gelten. In ihren Stücken „appetite“ (1998), „Alibi“ (2001) und „Visitors Only“ (2003) gelang ihr, die Verluste des Aufgehobenseins, die Wege des gesellschaftlichen Drucks, das Umschlagen in Gewalt und Autoaggression in einer Weise erleben zu lassen, die ästhetische Gewohnheiten immer unterlief. Diesmal jedoch scheint sie der Faszination für das Genre zu sehr zu erliegen und die eigene Perspektive nicht zu finden.

Es gibt gute Sequenzen, sicher, anrührende Verbeugungen vor dem Unheimlichen. Zum Beispiel, wenn aus dem simplen Gang einer Frau über die Bühne durch Wiederholung und Aufzeichnung ein Kampf der Konkurrenz zwischen der Person und ihrem Bild wird, in der der reale Körper der Verlierer ist. Ein anderer Höhepunkt ist die langsame Verwandlung in Maschinenmenschen, die mit ganz feinen Ausrutschern der Gesichtsmuskeln beginnt und in einem ruckelnden und überdrehten Spektakel der Panik mündet. Die Programme der künstlichen Wesen passen nicht zueinander; sie reproduzieren alltägliche Gesten wie fremde Vokabeln, von deren sinnvoller Verknüpfung sie keine Ahnung haben. Solche Prozesse weiß Meg Stuart in eine kaum noch für möglich gehaltene Steigerung zu treiben. Doch zwischen solchen Exzessen hängt die Dramaturgie durch und das Zuwenig macht süchtig nach dem Zuviel.

Im letzten Drittel läuft „Replacement“ zur spannendsten Form auf dank einer gigantischen Bühnenmaschine, auf deren Einsatz man bis dahin gewartet hat. Es ist eine große liegende Trommel, in deren Öffnung wir blicken, sozusagen die ultimative Zentrifuge für das Experiment, dem Menschen den Boden seiner Gewissheiten zu entziehen. Als sie sich endlich in Bewegung setzt, folgt man dem Kampf mit dem kippenden Boden, dem Klettern, Stemmen und Kriechen, dem Gleiten, Rutschen und Fallen, dem Anklammern und den Rettungssprüngen atemlos. Das ist Zirkus, die artistische Bewältigung der Katastrophe, die großzügig mit jeder Menge Metaphern vom schwankenden Boden unseres Daseins belegt werden kann. Aber irgendwie, das lässt sich nicht verdrängen, doch auch nur ein bühnentechnischer Trick und Theaterzauber. Nur dass der Deus ex machina jetzt eben nicht mehr den Retter gibt, sondern als Verstärker des Abgrunds arbeitet.