„Die Kinder sind die Quellen des Wissens“

SPD-Chef Matthias Platzeck gehört zu jenen Deutschen, die ein Faible für Finnland haben. Dort reicht die Bildungskette von der Geburt bis zur Hochschule. Platzeck hat seine Konsequenzen gezogen – und propagiert für seine Partei eine Kombination von Wohlfahrts- und Bildungsstaat

BERLIN taz ■ Es gibt eine ganze Reihe von Deutschen, die für das Modell Finnland schwärmen. Rainer Domisch gehört dazu, ein Schwabe, der als Einziger nichtfinnischer Beamter in Finnland arbeitet und inzwischen zig deutschen Delegationen das Mirakel der dortigen Schule erklärt hat. Auch Petra Linderoos muss dazu gerechnet werden. Sie ist die Frau, die das Programm für den Mann organisierte, der Finnland jetzt als soziales Konzept nach Deutschland importieren will: SPD-Chef Matthias Platzeck.

Seit Finnlands 15-Jährige die internationale Schulstudie Pisa so famos absolvierten, sind viele Deutsche in das 5,2-Millionen-Einwohnerland gereist. Lehrer, Kultusminister sowieso, auch der ein oder andere Ministerpräsident. Meist ging es dabei um die Schule, der etwas kaum Vorstellbares gelingt: Schüler aller Niveaus nicht zu separieren, sondern in einer Klasse zu unterrichten, ihnen erst sehr spät Noten zu erteilen, sie so gut wie nie durchfallen zu lassen – und sie trotzdem zu Höchstleistungen zu bringen. „Die finnische Schule ist toll“, verkündeten die Pisa-Touristen dann.

Bei Matthias Platzeck war das ein bisschen anders. Einer seiner ersten Wege führte ihn zur Hebamme von Petra Linderoos, einer Marburger Lehrerin, die seit 19 Jahren im finnischen Jyväskylä lebt. Genau gesagt heißt die Hebamme „Neuvola-Tante“, und sie beeindruckte den Brandenburger Ministerpräsidenten in der Partnerstadt Potsdams. Denn Platzeck sah in Jyväskylä, was er heute propagiert: Der finnische Bildungserfolg kommt nicht allein von der Schule, sondern er fußt auf einem ganz anderen Konzept von Kind. Kinder werden so angenommen, wie sie sind – und es wird in der Lernkette alles getan, damit kein Kind verloren geht. Das geht schon vor der Geburt los – bei der Neuvola-Tante.

„Das Wohl des Kindes steht in Finnland im Mittelpunkt“, schwärmte Platzeck hinterher. Weil die Neuvola-Tanten Mütter während der Schwangerschaft rundum informierten, weil sie eine Grundausstattung mit Babysachen mitbrächten – und sogar nach der Geburt sich noch verantwortlich fühlten. „Das sind hoch qualifizierte Gesundheitspflegerinnen“, berichtet Petra Linderoos, „die wissen wollen: In welchen Verhältnissen wächst der neue Mensch auf?“

Der heutige SPD-Vorsitzende hat bei seiner Neuvola Linderoos offenbar viel gelernt: Er sah, wie lückenlos die finnische Bildungskette von der Geburt über Kindergarten und Schule bis hin zur Universität funktioniert. Und er erfuhr, dass die finnischen Hochschulen ganz anders ticken als die deutschen. Sie nehmen bis zu 60 Prozent eines Jahrgangs in ihre Seminare auf und versuchen, das Prinzip der wissensbasierten Ökonomie umzusetzen. In Jyväskylä stehen dafür ein unvermeidlicher Science-Park sowie zwei neue Institutionen: Agora und Jykes. Die Agora ist Teil der Universität, in die sich Mittelständler direkt einmieten können; die Jykes-Unternehmensförderungs-GmbH geht als Public Private Partnership auf kleine und mittlere Unternehmen zu. Das heißt: Finnland stiftet enge Verknüpfungen zwischen Uni und Wirtschaft – aber in Jyväskylä eben nicht nur mit Industriegiganten wie dem Handy-Weltmarktführer Nokia, sondern auch für Mittelständler.

Rhetorisch war der Besuch in Jyväskylä für Platzeck prima. Er fand dort alle Ingredienzien, die sich zu einem hübschen Konzept eines neuen Sozialstaats zusammenbasteln lassen: den starken finnischen Wohlfahrtsstaat, eine hochkreative und fürsorgliche Bildungskette sowie den Versuch, schnellen Wissenstransfer in die Wirtschaft hinein zu organisieren. Soweit die Idee, die auch Sozialwissenschaftler wie Jeremy Rifkins oder Gostan Esping-Andersen vertreten.

Praktisch freilich wird das Modell der 80.000-Einwohner-Stadt Jyväskylä schwer zu kopieren sein. Dafür ist 80-Millionen-Deutschland wohl zu sperrig konstruiert. Am besten lässt sich das wohl an der Lehrerbildung demonstrieren, die in Jyväskylä zu Hause ist. Aus der ganzen Welt strömen Bildungsforscher nach Mittelfinnland, um das dort gelehrte pädagogische Ethos zu bestaunen: „Nicht die Lehrer, die Kinder sind die Quellen des Wissens!“ Auch Deutschlands Lehrerbildung verdient viel Aufmerksamkeit. Hier streiten 16 Länderschul- und Wissenschaftsminister seit vielen Jahren über ein gemeinsames Konzept – erfolglos. CHRISTIAN FÜLLER