Kein Recht auf Jugend

Viele vietnamesische Kinder und Jugendliche arbeiten bei ihren Eltern im Geschäft und betreuen die Geschwister. Freizeit haben sie kaum noch. Das Jugendamt in Lichtenberg will das ändern

Dass Kinder sich ihren Eltern unterordnen, ist in Vietnam selbstverständlich

VON MARINA MAI

Ein Blumenladen in Lichtenberg. Huyen bindet einen Strauß Blumen. Alle Handgriffe sitzen, es ist nicht der erste Strauß der Vietnamesin. Sie reicht ihn über den Ladentisch. Die Kundin bedankt sich, zahlt und verlässt den Laden. Was sie nicht weiß: Die „Verkäuferin“ ist 16 Jahre alt und besucht die zehnte Klasse einer Gesamtschule. Blumen verkauft sie in den Ferien und am Wochenende.

„Meine Eltern zwingen mich nicht dazu, ich mache das freiwillig“, erzählt Huyen, während sie die Gebinde hinter dem Verkaufstisch arrangiert. Sonnabends und sonntags stehe sie jeweils acht Stunden hinterm Ladentisch. Und in den Ferien „so fünf oder sechs Stunden am Tag. Genau habe ich das noch nicht gezählt.“

Huyens Vater war Vertragsarbeiter in der DDR. Damals musste er Frau und Töchter in Vietnam zurücklassen. Und weil Vertragsarbeiter nach der Wende lange auf ein Familiennachzugsrecht warten mussten, kam Huyen erst vor vier Jahren mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Deutschland. Sie ist stolz darauf, jetzt das Geld mitzuverdienen, das ihre Eltern den Großeltern in Vietnam schicken.

Huyen weiß, dass sie sich von ihren deutschen Klassenkameraden unterscheidet. „Die gehen am Wochenende auf Partys oder in die Disco. Ich gehe arbeiten. Aber“, beteuert sie, „ich komme damit klar.“

Ein paar Straßen weiter fährt Duc auf Rollerblades um seinen Häuserblock. Er ist zwölf Jahre alt und in Berlin geboren. Arbeiten geht er nicht, und das kann er sich auch nicht vorstellen. Aber er weiß, dass die Eltern das von ihm erwarten, wenn seine kleine Schwester zur Schule kommt. Dann muss er sie auch nicht mehr jeden Tag aus der Kita abholen.

Duc findet es blöd, immer seine Schwester dabei zu haben, wenn er mit Freunden spielt. „Die lachen mich aus“, sagt der schüchterne Junge in akzentfreien Deutsch. Wegen der Schwester war Duc noch nie bei einem Kindergeburtstag. „Ich müsste sie mitnehmen. Das wäre oberpeinlich.“

Auch Ducs Eltern waren DDR-Vertragsarbeiter. Nach der Wende bekamen sie das Aufenthaltsrecht nur, weil sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienten. Sie hatten einen Laden und arbeiteten 14 Stunden am Tag.

Monika Kunkel kennt die Alltagsprobleme vietnamesischer Familien in Berlin. Sie ist Sozialarbeiterin im Lichtenberger Jugendamt und für vietnamesische Kinder und Jugendliche zuständig. 10.000 Vietnamesen wohnen in Berlin, jeder dritte von ihnen im Bezirk Lichtenberg. Bei einer derart hohen Konzentration werden hier Probleme, die andernorts als Einzelfälle gelten, als kulturelle Konflikte wahrgenommen.

Die Probleme junger VietnamesInnen sind andere als die der Zuwandererkinder in Westberlin oder den alten Bundesländern: Sie sprechen in der Regel perfekt Deutsch, haben gute Schulnoten und begehen, statistisch gesehen, selten Straftaten. Kinderarbeit – etwa im elterlichen Geschäft – ist hingegen eines der häufigsten Probleme. In der Regel wird das Amt auf diese Jugendlichen erst aufmerksam, wenn ihnen die von der Familie übertragene Bürde zu schwer wird. Zweimal hat das Lichtenberger Jugendamt vietnamesischen Eltern das Sorgerecht aberkannt, weil sie ihre Kinder als kostenlose Arbeitskräfte missbrauchten.

Monika Kunkel erzählt von einem 16-jährigen Mädchen, das von ihrem Vater nur deshalb aus Vietnam geholt wurde, damit jemand die beiden jüngeren Halbgeschwister versorgte. Der Vater, der bereits in den 80er-Jahren ohne seine Familie als Vertragsarbeiter nach Berlin gekommen war, hatte hier zwei Kinder mit einer anderen Frau. Die große Tochter musste die Geschwister in die Kita bringen und abholen, für sie einkaufen und Essen kochen, sie ins Bett bringen. Wenn Vater und Stiefmutter, die einen Laden führten, dann abends von der Arbeit kamen, musste auch für sie das Essen auf dem Tisch stehen.

Dass Kinder sich ihren Eltern unterordnen, ist in Vietnam eine Selbstverständlichkeit. Nach konfuzianistischer Tradition verlangt es der Respekt vor den Älteren, ihnen so viel Arbeit wie möglich abzunehmen. „Noch schwieriger ist es bei Kindern, die hier geboren und in der Kita sozialisiert wurden“, erzählt Kunkel. „Weil sich die Eltern zu wenig mit ihnen beschäftigen, stehen sie den Anforderungen und Wertvorstellungen ihrer Kinder völlig verständnislos gegenüber.“ Mitunter sprechen Eltern und Kinder nicht einmal eine gemeinsame Sprache. Die hier geborenen Kinder verständigen sich auf Deutsch und beherrschen Vietnamesisch oft nur rudimentär. Bei den Eltern ist es umgekehrt.

In Vietnam sind Großeltern und ältere Geschwister für die Kinderbetreuung zuständig. Aufgabe der Eltern wiederum ist es, für die Großfamilie das Geld zu verdienen. Doch diese Großelterngeneration fehlt in Deutschland. So werden die Kinder häufig von wechselnden Personen oder gar nicht betreut. „Immer wieder kommen solche Jugendlichen ganz allein ins Jugendamt und sagen, sie wollten nicht mehr bei den Eltern leben“, berichtet Monika Kunkel. „Ich soll sie in einem Kinderheim unterbringen.“

Ein Problem, mit dem sie immer öfter konfrontiert ist: Weil Vietnamesen in der DDR keine Kinder bekommen durften, sind die ältesten der hier geborenen Jugendlichen gerade erst in der Pubertät. Bei ihnen werden jetzt Probleme sichtbar, auf die bisher wegen der oft ausgezeichneten Schulleistungen wenig geachtet wurde. Oft nimmt sich die Sozialarbeiterin stundenlang Zeit, um zwischen Eltern und Kindern zu vermitteln. Doch es gibt viele Fälle, in denen das Heim oder die betreute Wohngruppe – zumindest für eine Übergangszeit – die beste Lösung ist.

Christina Emmrich, Bezirksbürgermeisterin von Lichtenberg, hat die Situation vietnamesischer Jugendlicher in ihrem Bezirk im Blick: „Wir müssen die Eltern erreichen und mit ihnen über ihre Erziehungsstile diskutieren. Das ist Aufgabe des Jugendamtes. Außerdem haben wir einen freien Träger beauftragt, Freizeitangebote für diese Kinder und Jugendlichen entwickeln“, so die Linkspartei-Politikerin. In dem bundesweit einmaligen Projekt werden 16 VietnamesInnen zwischen acht und dreizehn Jahren an den Wochenenden pädagogisch betreut, um ihnen zu ermöglichen, was ihnen die Eltern vorenthalten: ein Recht auf Kindheit und Jugend.

Im Rahmen des Projekts gehen sie gemeinsam in den Tierpark und ins Kino, oder sie feiern Weihnachten, während die Eltern arbeiten. „Zu Beginn gab es Akzeptanzprobleme bei einigen Eltern“, erinnert sich Monika Kunkel. „Sie legten großen Wert darauf, dass ihre Kinder am Wochenende lernen. Kino und Spiel betrachteten sie als überflüssig. Aber wir konnten ihnen erklären, dass man auch spielerisch viel lernen kann, was in der Schule nützlich ist.“

Duc hat die Inlineskates abgeschnallt und geht nach Hause. Die Mutter ruft an und fragt, warum er nicht zu Hause war und gelernt hat. „Ich lerne ja“, brummt er. Ein vietnamesischer Junge widerspricht seinen Eltern nicht. Aber anstatt seines Mathebuchs sieht er sich einen Manga an, bevor er die Schwester aus der Kita holt.

Der in Vietnam aufgewachsenen Huyen sind solche kulturellen Konflikte mit den Eltern fremd. Später will die Zehntklässlerin eine Ausbildung zur Flugbegleiterin machen. Dass sie dann weiterhin im Geschäft der Eltern arbeitet, findet sie selbstverständlich: „Ich kann doch im Urlaub nicht faulenzen, während meine Eltern die schwere Arbeit machen.“