Menschenrechte weiter auf dem Rückzug

Im Kontext des Kriegs gegen den Terror geben USA und EU ihre traditionelle Führungsrolle in Menschenrechtsfragen auf. In das Vakuum stoßen China und Russland – mit katastrophalen Folgen, fürchtet der neueste Jahresbericht von Human Rights Watch

VON BERND PICKERT

Menschenrechte und die Organisationen, die auf deren Einhaltung drängen, sind in der Defensive. Das beschreibt eindrücklich der neue Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). In der umfassenden Einleitung zum über 500 Seiten starken Bericht, den HRW am Mittwoch in Washington vorstellte, zeichnet HRW-Direktor Kenneth Roth ein düsteres Bild: Insbesondere die USA und die EU, auf deren Vorbildfunktion und Führungsrolle in Menschenrechtsfragen jahrzehntelang Verlass gewesen sei, neigten im Kontext des Kampfs gegen den Terror immer mehr dazu, Menschenrechtsfragen entweder als zweitrangig anzusehen oder gar offen Verstöße für legitim zu erklären.

Als Organisation mit Zentralsitz in den USA widmet sich HRW vor allem der Politik der Bush-Regierung – vor allem in der aktuellen Diskussion um die Anwendung von Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Gefangenen. „Jede Diskussion über Übergriffe auf Gefangene muss mit den Vereinigten Staaten beginnen, nicht weil sie die schlimmsten Täter wären, aber weil sie am meisten Einfluss haben.“ Mit dem monatelangen Versuch der Bush-Regierung, die Verabschiedung der vom republikanischen Senator John McCain eingebrachten Antifoltergesetzgebung durch den US-Kongress zu verhindern, sei offensichtlich geworden, dass es sich bei den bekannt gewordenen Skandalen nicht um Einzelfälle auf der untersten Ebene, sondern um eine bewusst von der Regierungsspitze geführte Politik handele, schreibt Roth. Er konstatiert einen enormen Glaubwürdigkeitsverlust der USA in Menschenrechtsfragen. Insbesondere im Nahen und Mittleren Osten hätten die USA jede Fähigkeit verloren, glaubwürdig für Demokratie und Menschenrechte einzutreten.

Die Europäische Union kritisiert Roth gleichermaßen. Allen voran Großbritannien unter der Regierung von Tony Blair hätte eine fatale Komplizenschaft zur US-Regierung entwickelt, schreibt Roth. Die EU als solche sei in ihrem Auftreten einerseits durch die langwierigen Entscheidungsfindungsprozesse der 25 Mitgliedsstaaten gehemmt, andererseits durch die interessengeleitete Herangehensweise führender Mitglieder.

Explizit kritisiert HRW den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, der zugunsten des guten Verhältnisses zu Russlands Präsident Wladimir Putin auf jegliche Kritik an den russischen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und dem Demokratiedefizit in Russland selbst verzichtet habe. Auch beim Besuch Saudi-Arabiens habe Schröder es versäumt, die dortige katastrophale Menschenrechtssituation öffentlich anzusprechen.

In das Vakuum, das USA und EU bei der internationalen Durchsetzung von Menschenrechten hinterlassen hätten, seien China und Russland ihrerseits begierig hineingestoßen, „aber ihre Interventionen waren alles andere als hilfreich“. Russland habe nicht nur das Massaker im usbekischen Andidschan im Mai vergangenen Jahres verteidigt, sondern unterstütze aus Angst vor weiteren „orangenen Revolutionen“ innerhalb des früheren sowjetischen Einflussgebiets zunehmend Gewaltherrscher wie den weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko.

China seinerseits, abgesehen von der Menschenrechtslage im eigenen Land, verfolge international eine Politik der völligen Ignoranz gegenüber menschenrechtlichen Standards. Unter dem Motiv der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“ ordne Peking seine Außenbeziehungen dem starken Interesse an Rohstoffen unter.

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