nebensachen aus moskau
: Wie die sibirische Kaltfront auch erhitzte Gemüter kühlt

Eine sibirische Kaltfront hat das Leben in Moskau zum Erliegen gebracht. Gerade rechtzeitig kühlte der Temperatursturz die heiß laufenden Gemüter. Wer dem öffentlichen Diskurs lauscht, glaubt, an den Grenzen stünden die Heere Estlands, Georgiens, Moldawiens und der Ukraine Gewehr bei Fuß. Propagandamaschinen rüsten die russische Belagerungsmentalität zur Belagerungsidentität auf. Ein Fünkchen und die erboste Volksseele holt zurück, was ohnehin russisch ist: Kiew, die Krim etc.

Jüngstes Opfer: der ukrainische Speck Salo, dessen Einfuhr die Sanitäraufsicht aus Hygienegründen verbot. Damit reagierte der Kreml auf die ukrainische Besetzung eines Leuchtturms im Krim-Flottenstützpunkt Sewastopol. Dies war eine Retourkutsche auf den Gaskrieg. Nun traf es Salo, den auch Russen schätzen, da er jeden zum unschlagbaren Schluckspecht macht.

Kreml-Hofnarr Wladimir Schirinowski eröffnete die Südfront und forderte die Armee auf, türkische Zugvögel vom Himmel zu holen. Hinter ihnen wittert er virusverseuchte Vogel-Diversanten im Auftrage Ankaras. Die Welt hat sich verschworen, besser man wendet sich ab. So liegt der Duma ein Entwurf vor, der kritischen Ausländern die Einreise verbieten will. Bald dürfte Gerhard Schröder das ARD-Büro in Moskau allein schmeißen.

Siegreiche Schlachten werden im Reich des Imaginären geschlagen. So will die Duma in erster Lesung den Tag des Vaterlandsverteidigers am 23. Februar in einen „Tag des Sieges der Roten Armee über die des kaiserlichen Deutschlands“ umbenennen. Warum nicht? Auch wenn die triumphale Schlacht nie stattfand.

Ramsan Kadyrow, tschetschenischer Vizepremier und Warlord, erhielt nicht nur den Orden eines Vaterlandsverteidigers, dessen Hinterhof er gerade in Brand steckt. Mit der Auszeichnung ging auch die Berufung zum Vollmitglied einer Akademie der Wissenschaften einher – Gebiet praktischer Terrorismus. Ramsan regte eine Diskussion über die Einführung der Polygamie an. Zur Seite sprang ihm Swinger Schirinowski, der außer dem Kreml keinem treu sein kann. Dem kältebedingten Energieengpass begegnete „Schiris“ Parteivize mit einem Bügelverbot für Hosen, das Parteimitglieder strikt befolgen.

Laut Kommersant bewertete das Außenministerium seine letztjährige Arbeit „traditionell als äußerst erfolgreich“. Hervorgehoben wurden der freundliche Empfang Wladimir Putins im Ausland und die Kaderverstärkung des Ministeriums durch die Gasowiki „Gazproms“.

Realitätsverweigerung ? Nein – das wäre Vulgärpsychologie. Vielmehr liegt hier die Konstituierung eines „Ideal-Ichs“ vor. Jacques Lacans „Spiegelstufe“ kommt dem Phänomen wohl am nächsten. So nimmt das Kind im Bild des Ähnlichen oder in seinem Spiegelbild eine Gestalt wahr, in der es eine Einheit des Körpers antizipiert. Daher stamme sein „Jubilieren“, obwohl ihm diese Einheit objektiv fehlt.

KLAUS-HELGE DONATH