Der Vater einer Nation

Ibrahim Rugova legitimierte als Gegenspieler des serbischen Präsidenten Milošević die Unabhängigkeitsbewegung des Kosovo

VON ERICH RATHFELDER

Den legendären Schal hatte er schon damals um den Hals gelegt. Aus Seide sei er, verriet Ibrahim Rugova lächelnd im Herbst 1988. Der 1944 in dem Örtchen Cerrce im Kosovo geborene Rugova, am Samstag im Alter von 61 Jahren an Lungenkrebs gestorben, war da gerade zum Präsidenten des Schriftstellerverbandes des Kosovo gekürt worden. Und der Schal wurde zu seinem Markenzeichen.

Nur wenige Journalisten verschlug es damals nach Prishtina, um mit dem künftigen „Gandhi Europas“ zu sprechen. Wer war Rugova denn schon? Ein armer Schlucker, ein Schriftsteller irgendwo auf dem Balkan, dessen Texte kaum jemand kannte, weil er auf Albanisch, also in einer im Ausland kaum bekannten Sprache schrieb. Das Kosovo war ein weißer Fleck jenseits der Nachrichtenströme, eine serbisch dominierte Provinz mit einer armen albanischen Bevölkerungsmehrheit an der Grenze zu dem durch einen Eisernen Vorhang abgeschotteten kommunistischen Albanien.

Symbol des Kosovo

Ibrahim Rugova sollte bald von sich reden machen. Sein politischer Aufstieg war eng verknüpft mit jenem des damaligen Chefs des serbischen Bundes der Kommunisten, dem späteren Präsidenten Serbiens, Slobodan Milošević. Milošević wollte die vom kommunistischen Staatschef Tito 1971 gewährte weit reichende Autonomie des Kosovo zurücknehmen und die Provinz 1989, rechtzeitig zur 600-Jahrfeier der legendären Schlacht der Serben gegen die Türken, wieder ganz unter serbische Herrschaft bringen. Deshalb entfesselte er eine antialbanische, nationalistische Kampagne und Demonstrationsbewegung.

Auf Betreiben von Milošević wurde der kosovarische Schriftstellerverband, sozusagen als erster Schritt, aus dem serbischen Schriftstellerverband ausgeschlossen. Und damit wurde Rugova zur politischen Figur. Er begann für alle Kosovoalbaner zu sprechen. Mit scharfen Worten geißelte er die Politik des Milošević-Regimes. Die Sitz des Schriftstellerverbandes wurde zum Zentrum des albanischen Widerstandes. Er organisierte den Dialog mit den westlichen Mächten. Die kosovoalbanische Bevölkerung hob den Doktor der Philosophie und Literatur auf ihren Schild. Er wurde zum Präsidenten der 1989 gegründeten „Demokratischen Liga Kosova“ (LDK) gewählt, der sogleich 300.000 der damals 1,6 Millionen Kosovoalbaner beitraten.

In Jugoslawiens nördlichen Republiken Slowenien und Kroatien sowie in der Stadt Belgrad selbst wurden die Rufe nach Demokratisierung lauter. Der Fall der Mauer in Berlin, der Machtwechsel in Ungarn und Polen, die Revolutionen in der damaligen Tschechoslowakei und in Rumänien sowie der Umsturz in Albanien beflügelten Rugova. Für ihn war die Demokratisierung Jugoslawiens nicht mehr aufzuhalten. Kosovo sollte frei und demokratisch innerhalb einer lockeren Föderation sein. Rugova hoffte zudem auf die Hilfe der westlichen Demokratien gegen die serbische Unterdrückungspolitik.

Gewaltloser Widerstand

Gerade deshalb beeilte sich Milošević, die Autonomie des Kosovo außer Kraft zu setzen und die demokratische Bewegung im eigenen Land niederzuschlagen. Der Konflikt spitzte sich zu, als 1991 endgültig alle albanischen Angestellten aus den staatlichen Betrieben und dem Staatsapparat entlassen wurden. Die Albaner entwickelten im Kosovo eine Parallelgesellschaft mit Untergrundschulen, Hospitälern, mit einer eigenen, privaten Wirtschaft. Rugova wurde am 24. Mai 1992 bei nicht anerkannten Wahlen mit 99,7 Prozent der albanischen Stimmen zum Präsidenten des Landes gewählt. Jugoslawien gab es nicht mehr, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Mazedonien hatten ihre staatliche Unabhängigkeit erklärt, er forderte sie jetzt für das Kosovo.

Rugova war jedoch ein Präsident ohne staatliche Macht. Der Staat, die Polizei, die Armee, die staatliche Wirtschaft blieben in Händen der Serben. Doch mit der Macht der moralischen Autorität organisierte er den geschlossenen passiven Widerstand der kosovarischen Bevölkerung. Er trat für einen multikulturellen Staat ein, in dem die Minderheitenrechte geachtet würden. Aus dieser Zeit stammt das Wort vom „Gandhi Europas“.

Heute wird ihm von vielen seiner Landsleute gerade diese pazifistische Strategie zum Vorwurf gemacht. Serbien, das seit 1991 Krieg in Kroatien und seit 1992 Krieg in Bosnien und Herzegowina führte, habe die Strategie des passiven Widerstandes den Rücken freigehalten. Milošović habe damals sogar begonnen, Rugova ein bisschen zu hofieren.

Hätten die Kosovaren schon damals und nicht erst fünf Jahre später zu den Waffen gegriffen, hätten sie Milošević eine vernichtende Niederlage bereiten können, lautet heute der Vorwurf aus den Reihen der erst 1997 auftretenden Kosova-Befreiungsarmee UÇK.

Rugova verzweifelte nach dem Abkommen von Dayton 1995, das den Krieg in Bosnien und Herzegowina beendet, die Kosovo-Frage jedoch offen gelassen hatte. Über die internationale Gemeinschaft enttäuscht zog er sich mehr und mehr in sein Haus zurück, psychisch angeschlagen, umgeben nur von wenigen Vertrauten. Seine Strategie war gescheitert.

Jetzt setzten sich die Radikalen durch. Mit Beginn des bewaffneten Kampfes der UÇK verschwand er fast völlig. Während der von internationaler Seite einberufenen Verhandlungen von Rambouillet im Februar 1999, die zu einem Kompromiss im Kosovo führen sollten, saß er meistens schweigend da. Das Wort führten andere. Die Verhandlungen scheiterten.

In der Hand Milošević’

Unglücklich war Rugovas Rolle zu Beginn des Nato-Angriffs auf Jugoslawien im März 1999. Von den Serben zunächst unter Hausarrest gestellt, erschien er im jugoslawischen Fernsehen im Gespräch mit Slobodan Milošević und ließ sich zu Propagandazwecken missbrauchen, während zur gleichen Zeit hunderttausende seiner Landsleute mit brutaler Gewalt vertrieben wurden.

Anfang Mai durfte er dann mit seiner Familie nach Italien ausreisen. Während fast eine Million Menschen in Flüchtlingslagern in Mazedonien und Albanien vegetierten, verhandelte er in Deutschland über einen feudalen Wohnsitz. Der Präsident der Kosovoalbaner brachte es nicht einmal fertig, öffentlich seinen Landsleuten in den Lagern Mut zuzusprechen. Und er überwarf sich mit engen Weggefährten, so seinem Premierminister Bujar Bukoshi, der ehemaligen Außenministerin seines Schattenkabinetts, Edita Tahiri, dem Ökonomen Isa Mustafa und vielen anderen.

Selbst in der internationalen Gemeinschaft und der UN-Mission im Kosovo sank sein Ansehen. Dennoch gelang es seiner Partei, bei den ersten freien Wahlen nach der Nato-Intervention im Kosovo mit großem Vorsprung zur stärksten Fraktion gewählt zu werden. Die Bevölkerung vertraute trotz aller Enttäuschungen Rugova und seiner LDK mehr als den Parteien, die aus der UÇK hervorgegangen waren. Er wurde wieder Präsident des jetzt von der UN-Mission verwalteten Landes. An seinem zuletzt gepflegten Stil änderte sich nichts. Er gab sich unnahbar und zugeknöpft. Zu kaum einem Thema nahm er in den letzten Jahren öffentlich Stellung. Die Niederungen der Realpolitik vermied er. Die überließ er anderen.

In einem aber blieb Ibrahim Rugova hart: Kompromisslos stand er bis zuletzt für die Unabhängigkeit des Kosovo. Das Vermächtnis des Mannes mit dem Schal bleibt für seine Landsleute bestehen: Kosovo soll frei und demokratisch sein.