Aktualität plus Kontinuität

Bewegt sich in einem ständigen Fluss: Die in Wien ansässige Internet-Kulturzeitschrift „Eurozine“ ist ein Zusammenschluss verschiedener europäischer Kulturzeitschriften

In der seit 1998 in Minsk erscheinenden Kulturzeitschrift Arche analysiert der Londoner Slawist Andrew Wilson die Chancen des weißrussischen Oppositionskandidaten Aliaksandr Milinkevich bei den Präsidentschaftswahlen im September: Wird die Lukaschenko-Regierung antipolnische Ressentiments gegen den grenznah geborenen Gegenkandidaten schüren oder zum Schein einen unpopulären Drittkandidaten platzieren?

Dass solche kritischen Stimmen außerhalb von Belarus überhaupt zur Kenntnis genommen werden, ist womöglich nur der in Wien ansässigen Internet-Kulturzeitschrift „Eurozine“ zu verdanken. Hervorgegangen ist „Eurozine“ aus einem eher informellen Zusammenschluss verschiedener europäischer Kulturzeitschriften, unter anderen des Hamburger Mittelwegs 36 oder des Wiener Wespennests. Inzwischen erlaubt „Eurozine“ den Zugriff auf ein Netzwerk von 53 Partnerzeitschriften aus 32 Ländern, deren Texte übersetzt und online publiziert werden. Das kostenlose Internetangebot erhält 300.000 Euro Zuwendungen von verschiedenen europäischen Kulturstiftungen.

Auch wenn in Weißrussland selbst nur wenige Arche-Leser online gehen können, sind die Vorteile der Netzpräsenz nicht von der Hand zu weisen: Sollte es zu Repressalien gegen das regierungskritische Blatt kommen, bliebe das im restlichen Europa nicht unbemerkt. „Die bloße Tatsache der Öffentlichkeit bewirkt sehr viel. Wenn die Zeitschrift verboten würde, wissen es die Leute in ganz Europa“, erläutert Jan Philipp Reemtsma, dessen „Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur“ zu den Sponsoren von „Eurozine“ gehört. Reemtsma geht es mit seinem Engagement um die „Selbstverständlichkeit der Etablierung von wechselseitiger Kenntnisnahme“ in einer aufgeklärten Öffentlichkeit in Europa.

Doch genauso selbstverständlich führt „Eurozine“ dem interessierten Leser die eigene sprachliche Begrenztheit vor Augen. Ein Mausklick zu viel, und schon landet man auf der kyrillischen Homepage arche. home.by. Neben den jeweils aktuellen Inhaltsverzeichnissen sind bei „Eurozine“ nur ausgewählte Artikel in Übersetzung abrufbar. Immerhin. So lässt sich vergegenwärtigen, was in vielen europäischen Sprachen zwar alles gedacht und geschrieben, aber leider nicht für alle zu lesen ist. Wer etwa die deutsche Diskussion um die Gründung einer Nationalbibliothek verfolgt hat, würde sich vielleicht gern von Vital Zajkas Aufsatz „Wie national ist die weißrussische Nationalbibliothek?“ (Arche 6/2005) zu weiterführenden Gedanken inspirieren lassen.

216 Artikel und 145 weitere Übersetzungen hat die vierköpfige Wiener Redaktion von „Eurozine“ im Jahr 2005 in Netz gestellt. Auch ältere Texte bleiben dauerhaft abrufbar oder werden für spezielle Themenschwerpunkte sogar erneut hervorgehoben. „Wir produzieren keine Einzelnummern, sondern bewegen uns in einem ständigen Fluss“, sagt „Eurozine“-Chefredakteur Carl Henrik Frederiksson. Das Internet versteht er nicht als Konkurrenz zum gedruckten Text, sondern als Möglichkeit, Aktualität mit Kontinuität zu verknüpfen. Frederiksson glaubt nicht, dass die in der Regel mehrseitigen Textbeiträge am Bildschirm gelesen werden. Deshalb kann man alle Texte auch als PDF-Datei ausdrucken. „Wir nutzen das Internet auf konservative Art“, sagt er. Auf Wunsch lässt sich auch ein 14-täglicher Newsletter abonnieren.

100.000 Leser gehen monatlich auf die Homepage. Im Vergleich dazu bewegen sich die Printauflagen der beteiligten Magazine oft nur im vierstelligen Bereich. Übersetzt wird ins Englische, Deutsche und Französische. „Dafür wählen wir Artikel aus, die sich mit Debatten anderenorts verbinden lassen“, so Frederiksson. Übernehmen einzelne Magazine einen Beitrag in ihre Landessprache, erscheinen auch diese Übersetzungen im Netz. Ohne das Netzwerk im Rücken hätte es die Istanbuler Vierteljahreszeitschrift Cogito womöglich nie gewagt, einen Beitrag zur Armenienfrage abzudrucken. „Cer Cop / On Garbage“ lautet der Themenschwerpunkt der aktuellen Nummer. Hier erfährt man, was Esra Akcan über die „Melancholie und das Andere“ zu sagen hat: „Nur denjenigen erscheint unsere moderne Welt als offene globale Metropole, die die vorherrschende geografische Verteilung der Macht ignorieren.“ JAN-HENDRIK WULF