Der Unvogel des Jahres

Ein Besuch der Wahrheit beim Sprecher der Auswahlkommission, Volkmar Schulz

Vögel, die falsche ästhetische Signale aussenden, müssen gebrandmarkt werden

Jedes Jahr das gleiche Spiel: Wort des Jahres, Unwort des Jahres. Gewinner des Jahres, Loser des Jahres. Nur der Vogel des Jahres stand bislang ohne Gegenspieler da. Dank der Unvogelkommission im brandenburgischen Schwante wird sich das ab sofort ändern.

Der untersetzte Herr, Unterstaatssekretär a. D. im Bundessprachenamt, blickt auf die Päckchen von Briefen auf seinem Schreibtisch. Das größte liegt etwas abseits. „Hier auf den Tisch haben es nur die ernst zu nehmenden Zuschriften geschafft“, sagt er und lacht. „Was hatten wir zu kämpfen. Sie glauben nicht, wie viele Menschen uns Vögel zugeschickt haben, Vögel, die ihnen lästig fielen! Wir mussten in rund 500 Fällen das Staatliche Veterinäramt Brandenburg bemühen, damit es die Kadaver entsorgt.“ Er langt in einen großen Karton am Boden und zieht zwei Beispiele heraus. „Liebe Unvogel-Kommission! Hiermit erlaube ich mir, Ihnen Emma zuzusenden, die zäheste Weihnachtsgans, die wir je hatten. Wir haben nur ein kleines Stück gegessen. Das hat uns gereicht. Pfui Spinne!“ Kopfschüttelnd liest Schulz das zweite Schreiben vor: „Bertie hat mich 15 Jahre genervt, ich habe ihm aber, tierlieb wie ich bin, immer alles nachgesehen und verziehen. Erst als er meine Briefmarkensammlung aufgefressen hat, hab ich nicht anders gekonnt und ihm den Hals umgedreht. Mit Hochachtung und in aufrichtiger Dankbarkeit … PS: Graupapagei liegt bei“. Schulz lässt das Papier fallen.

„Da sind Schreiben von Anglern dabei, die Eisvögel mit Leimruten ruhig stellten, weil sie ihnen die Fischbrut dezimierten, ungelenke Kärtchen von Kindern, die es leid waren, ihren Wellensittich füttern zu müssen, wo sie sich doch ein Meerschweinchen gewünscht hatten, Briefe von Taubenzüchtern die uns Versager schickten, die bei der Leistungsschau oder beim Flugtag kläglich abgeschmiert waren.“ Schulz ist erbost: „Lernt man denn in der Schule nicht mehr den Unterschied zwischen Individuum und Gattung? An den Schulen liegt noch vieles im Argen“, sagt Schulz. Recht hat er.

In einem zweiten Karton sind alle so genannten Spaßvögel versammelt: „500-mal der UN-Vogel Kofi Annan, 500-mal der Unglücksrabe, 500-mal der Pleitegeier, 500-mal der Gummiadler und so weiter. Sogar die Concorde ist dabei, obwohl die schon lange nicht mehr fliegt!“ Schulz könnte jetzt mit Blicken töten. Erst als er sich auf die ernsthaften Vorschläge konzentriert, scheint der Herr der Unvögel wieder versöhnlich gestimmt zu sein. „Die Voten der Interessenverbände waren vorhersagbar. Die Angler gegen die Reiher und die Kormorane – ebenso abzusehen wie die Bauern gegen die Raben. Und natürlich: Die Geflügelzüchter gegen die Störche, die Kraniche, die Graugänse, die uns die Vogelgrippe ins Land bringen könnten.“

Schulz entspannt sich. „Gut, die Enten, die sind dann doch in die Endauswahl gekommen: Eiderente, Brandente, Reiherente, Moorente, Mandarinente – viel zu schön, um etwas daran auszusetzen. Aber die Stockente, die ist schon ein ziemlicher ästhetischer Missgriff der Schöpfung, ein schlimmer Anblick in Parks und Gärten, nicht wahr?“ Der kleine Mann erheischt sichtlich Zustimmung, so wie er sich in die Brust wirft – schwer zu übersehen, das er hier über seinen persönlichen Spitzenkandidaten spricht. Wir wollen ihm nicht widersprechen, denn Stockenten sind schon ein reichlich widerlicher Anblick. Dieser flaschengrüne Hals. Ja, Schulz ist zuzustimmen.

Doch seine leicht gebrochene Stimme ist nur eine von zwei Dutzend Kommissionsmitgliedern. „Wir haben keine Lobbyisten im Team. Wir sind überparteilich und unabhängig“, erläutert er. „Wir haben auch rein gar nichts gegen die Wahl des Kleibers zum diesjährigen Vogel des Jahres einzuwenden! Vögel, deren Flug wir nachahmen, deren aufgeplustertes Balz- und aufopferndes Brutverhalten wir imitieren, haben ganz klar eine Vorbildfunktion. Kopfüber an den Bäumen abwärts laufend, blickt der Kleiber zum Beispiel uns mit aufwärts gedrehtem Köpfchen an. Er steht für Aufschwung. Wir sind noch nicht ganz unten, bedeutet seine Haltung. Kopf hoch!“

Der kleine Mann, dem man die Strapazen der Auswahlsitzungen ansieht, strafft sich: „Wir wollen die kulturelle Leitfunktion der Vogelwelt nicht gering schätzen“, sagt Schulz. „Den Vogel des Jahres muss es geben, und die getroffene Wahl hat unsere Zustimmung. Unsere Arbeit zielt jedoch darauf ab, jene Vögel aufzuspüren und zu brandmarken, die es verabsäumen, als funktionierender Teil des kulturellen Diskurses zu erscheinen. Vögel, die uns die falschen Signale vermitteln: Unvögel!“ Volkmar Schulz hebt den Siegerstapel mit den meisten Briefen in die Höhe und verkündet ganz leise, aber energisch: „Unvogel des Jahres 2006 ist – die Bachstelze.“ Eine treffliche Wahl, wie wir zugeben müssen. Schließlich ist Mozart-Jahr. TOM WOLF