Vom Trauma zum Exzess

Atom Egoyans neuer Film „Wahre Lügen“ kommt zunächst erstaunlich geradlinig daher. Ein klassischer Whodunit-Plot, angesiedelt vor 50er-Jahre-Kulissen, dazu saftige Sexszenen. Die tragische Dimension hält der Regisseur bis zum Schluss zurück

„Wir lieben uns“, schreit Lanny seinen Partner Vince an, „aber wir können keine Queers sein!“

von ANDREAS BUSCHE

Vor zwei Jahren erschien in der britischen Filmzeitschrift von Sight and Sound unter dem Titel „No Sex please, We are American“ ein Artikel, in dem Paul Verhoeven, Brian de Palma und William Friedkin darüber lamentierten, dass es heutzutage in Hollywood schier unmöglich geworden sei, vernünftige Sexszenen zu drehen. Verhoeven schwärmte unter anderem von mehrseitigen detaillierten Beschreibungen in den Drehbüchern von Joe Eszterhas und „symphonisch“ anmutenden Paarungsritualen zwischen Sharon Stone und Michael Douglas. Das Resümee des Artikels fiel eindeutig aus: Es gibt – Bush und Konsorten sind schuld – keine Mainstream-Filme mehr, in denen es noch richtig zur Sache geht. Blümchensex sei das höchste der Gefühle.

Es ist kaum anzunehmen, dass Atom Egoyan sich in der Gesellschaft der zornigen alten Männer allzu wohl gefühlt hätte (viel lieber würde man ihn einmal an einem Tisch mit Ulrich Seidl sehen) – obwohl sein neuer Film „Wahre Lügen“ auf den ersten Blick selbst an die Tradition schwül-hitziger Eszterhas-Verfilmungen erinnert, die in den Neunzigerjahren das kurzlebige Genre des Erotikthrillers begründeten. „Wahre Lügen“ beschreitet in Egoyans ungemein beständigem Oeuvre in mehrerlei Hinsicht Neuland: Sein Budget übersteigt das früherer Filme um ein Vielfaches, es gibt mit Colin Firth und Kevin Bacon zwei zugkräftige Namen, und „Wahre Lügen“ kommt als Genrefilm, als Neo-Noir-Krimi daher.

Am Anfang liegt ein totes Mädchen nackt in der Badewanne einer Luxussuite – ein Skandal, der im Jahr 1957 den kometenhaften Aufstieg des Entertainer-Duos Lanny Morris and Vince Collins vorzeitig beendete. „Wir waren nicht bloß Helden“, erzählt Lanny (Kevin Bacon) aus dem Off, „wir waren Götter.“ Die Figuren von Lanny und Vince sind lose an den Fünfziger-Jahre-Act von Dean Martin und Jerry Lewis angelehnt; der lässige Crooner und sein anarchistischer Sidekick, das Yin und Yang des Showbiz. Lanny: „Wir waren ein Junge-Mädchen-Gespann. Ich war Spaß, er war Kontrolle. Ich war Rock ’n’ Roll, und er war Klasse. Seine Anwesenheit erlaubte Amerika, mich zu lieben.“

Die Hybris der selbst ernannten Götter endet nicht am Bühnenausgang. Außerhalb des Rampenlichts lassen sie erst richtig die Sau raus: Sex, Koks, Pillen („Alles, was nicht injiziert wurde, war okay. Es war nicht ernsthaft ernst“), Mafia, noch ein paar Pillen, ein flotter Dreier im Hotelzimmer – das Leben ein einziger Exzess. „Der netteste Typ der Welt zu sein“, diktiert Lanny in das Aufnahmegerät der jungen Gesellschaftsreporterin Karen O’Connor (Alison Lohman), „ist der schwierigste Job der Welt, wenn du es nicht bist.“

Eine Millionen Dollar ist diese Geschichte wert. Diese Summe bietet ein großer Verleger Vince Collins fünfzehn Jahre nach dem Ende seines berühmten Show-Acts mit Lanny Morris für seine Lebensgeschichte. Karen ist die Aufgabe zugekommen, gemeinsam mit Vince an dessen Memoiren zu arbeiten. Ihm ist zunächst nicht klar, welche Rolle er und Lanny in Karens Leben spielen, und noch viel weniger, welche das Mädchen für ihn und Lanny spielen wird. Sicher ist nur, dass jene Nacht im Jahr 1957, als in Lannys und Vince’ Hotelzimmer das tote Zimmermmädchen Maureen (Rachel Blanchard) aufgefunden wird, der Schlüssel zu dem Geheimnis ist, das die Karrieren von Vince und Lanny seither umgibt.

Egoyans faszinierter Blick auf die amerikanische Unterhaltungsbranche der Fünfzigerjahre unterscheidet sich gravierend von seinen früheren Arbeiten, in denen traumatische Erlebnisse die übergreifende Erzählstruktur bildeten. Das zeigt sich schon in der Akribie, mit der Egoyan die Nachtclub-Auftritte und den 39-stündigen Benefiz-Fernsehmarathon, Lannys und Vince’ letzten gemeinsamen Auftritt, im Stile eines period pictures nachstellt. „Wahre Lügen“ ist wie üblich bei Egoyan als Labyrinth aus Täuschungen, Selbstbetrug und emotionalen Abhängigkeiten entworfen, doch sind die Beziehungen der Figuren zueinander, auch ihre gegenseitigen Machtverhältnisse, weniger verstörend angelegt, als man es von ihm gewohnt ist. Die traumatische Erfahrung führt in „Wahre Lügen“ immer wieder nur geradewegs in den Exzess.

Dennoch sind die Bezüge zu zwei von Egoyans besten Filmen, „Der Schätzer“ (1991) und „Exotica“ (1994), unverkennbar. In „Der Schätzer“ wie in „Erotica“ schrammt die Erotik immer haarscharf am Pathologischen entlang, gerade auch durch ihre sterile Körperlosigkeit. Die sexuellen Stimuli zielen nicht mehr auf Triebbefriedigung ab – wohl kaum etwas läge Egoyan ferner als die bloße Transgression von Abbildungstabus, auf die Verhoeven, de Palma und Friedkin in ihren Filmen primär abzielen.

In beiden Egoyan-Filmen fungieren sexuelle Reize vielmehr als eine Form der Kontaktaufnahme; ein Code, der nur von Sender und Empfänger entschlüsselbar ist und der den unwissenden Betrachter automatisch in die Rolle des Voyeurs drängt. In „Der Schätzer“ stellt sich über die heimlich aufgezeichneten Pornofilme eine gemeinsame Erfahrung her zwischen dem entfremdeten Leben der Zensorin und ihrer armenischen Schwester, die des Englischen nicht einmal mächtig ist. Ihr Mann wiederum, ein Gutachter für Feuerversicherungen, leistet Liebesdienste an seinen vom Schicksal getroffenen weiblichen Klienten; sein Altruismus ist auf der Grundlage von Abhängigkeiten errichtet. Die Lapdances in „Erotica“ folgen einem noch viel komplizierteren Verständigungsmodell, sie sind voller inzestuöser Implikationen und vervollkommnen damit die sprachlose Verstörung. Insofern Egoyan solche Codes nur zögerlich aufschlüsselt, meist in fragmentarischen Zwischenschnitten aus Traumbildern, Rückblenden und Erinnerungsschlieren, spielen alle seine Filme gewissermaßen mit klassischen Topoi des Mystery-Thrillers.

„Wahre Lügen“ ist ungleich gestraffter, eingängiger und folgerichtig auch expliziter: ein klassischer Whodunit mit einigen saftigen Sexszenen. Mysteriös in der Verwinkelung seines Plots und seiner Erzählperspektiven (Karen und Lanny wechseln sich mit ihren Off-Kommentaren ab und stiften dabei Verwirrung), aber erschreckend banal in der Aufschlüsselung seiner traumatischen Struktur.

Karen wird sogar doppelt sexuell kompromittiert. Erst treibt sie es mit Lanny, später schmeißt Vince ihr aus alter Gewohnheit ein paar Pillen ein, um sie beim Techtelmechtel mit einem blonden Collegegirl, der Karen zuvor – wieder bei einer Benefizveranstaltung – als Alice im Wunderland begegnet ist, zu beobachten. Die sexuelle Dialektik von Dominanz und Unterwerfung zieht in „Wahre Lügen“ vulgärpsychologische Affekte nach sich.

In den USA hat das genügt, um „Wahre Lügen“ kurzzeitig ins Gespräch zu bringen. Die öffentlichen Diskussionen um die Altersfreigabe haben dem Film letztlich allerdings mehr geschadet als genutzt, denn die Kritik merkte sehr schnell, dass Egoyans Film den Wirbel nicht rechtfertigte. In der offiziellen Version ging es der MPAA um die paar Sexszenen, die in „Wahre Lügen“ zwar nicht unbedingt expliziter als gewohnt ausfallen, dafür aber etwas ausführlicher inszeniert sind (Bacons unverblümtes Voice-Over und der exzessive Drogenkonsum taten ihr Übriges). In einem amerikanischen Filmmagazin versuchte Egoyan als Reaktion auf die Entscheidung der MPAA, den Film mit einem NC-17-Rating zu versehen (vergleichbar mit der deutschen „ab 18“-Altersfreigabe), das Grundproblem beim Filmen von Sexszenen zu erklären.

„Die offensichtlichste Lösung, zu sehen in zahllosen Hollywood-Filmen, ist, die Köpfe und Schultern der Darsteller zu kadrieren, während ihre Unterleiber die Arbeit verrichten. Gelegentlich schneidet der Regisseur in die Totale, aber der Akt selbst bleibt quasi unsichtbar. Die Körper der Schauspieler befinden sich unter den Bettlaken. Ich bin allerdings überzeugt, dass der master shot die beste Methode ist, eine Sexszene zu filmen – eine einzige, ungeschnittene Sequenz. Ich will Körper sehen. Die traditionelle Kopf-Schulter-Kadrierung hätte in meinem Film, mit diesen Figuren, nicht funktioniert. Die Sexszenen mussten reißerisch und zügellos aussehen. Ich wollte den Sex roh und entblößt.“

Egoyans Kritik ist nahezu identisch mit der von Verhoeven, de Palma und Friedkin, aber Egoyan scheint die MPAA zu unterschätzen, wenn er lediglich die explizite Darstellung der Unterleibsbewegungen für das hohe Rating verantwortlich macht. Denn Egoyan hat die sexuellen Konnotationen von „Wahre Lügen“ weitaus ambivalenter angelegt, als es auf den ersten Blick scheint. Hinter der verdrogten Geilheit offenbart sich ein schwarzes Loch sexueller Repression. Karen fungiert in diesem, wie Lanny es viel sagend ausdrückt, boy-girl act eher als Katalysator denn als aktive Teilnehmerin. Darin wiederholt sich die Geschichte von Maureen, die 15 Jahre zuvor eingekeilt zwischen Lanny und Vince sterben musste. Als willfährige Gespielin heizt Karen die Stimmung bloß an. Doppelpenetration, die Two-on-One-Sexnummer (zwei Männer, eine Frau), gehört zu den Standards im Pornofilm; in „Wahre Lügen“ legt Egoyan die homosexuellen Untertöne dieser Konstellation frei.

Lanny sinniert über die Vorzüge der Missionarsstellung. Er bevorzuge den Blickkontakt, sagt er, es gebe keine Geheimnisse. Er blicke den Mädchen in die Augen und wisse, wer sie sind. Doch bei Maureen war es anders, fügt er hinzu: „Sie sah genau, wer ich war.“ Was sich hinter dieser kryptischen Bemerkung verbirgt, verstehen wir kurz darauf, als sich Vince von hinten an Lanny heranmacht. Vince scheint zunächst Orientierungsprobleme zu haben; er findet die richtige Öffnung nicht. Lanny nimmt das zunächst recht locker. Doch als Vince sich erneut an dessen Hintern zu schaffen macht, diesmal mit etwas mehr Nachdruck, platzt Lanny der Kragen. „Wir ficken nicht, Vinnie,“ schreit er einen sichtlich gebrochenen Vince ins Gesicht. „Wir lieben uns, aber wir können keine Queers sein!“ Können – ein kleiner, aber feiner Unterschied.

Bacon hat in Interviews einen ähnlichen Verdacht geäußert. Seiner Meinung nach war allein der homoerotische Subtext ausschlaggebend für das unangemessen hohe Rating von „Wahre Lügen“ – dazu passt auch, dass Egoyan nach dem ersten Votum der MPAA eine leicht gekürzte Fassung des Films vorlegte. Doch auch diese wurde mit dem NC-17-Rating versehen, sodass Egoyan schließlich die ursprüngliche, ungeschnittene Fassung in die Kinos brachte – ohne Altersfreigabe. Schwuler Sex und Drogen, so scheint es, gehen in Hollywood einfach nicht zusammen.

Dabei ist es dieser subtile, fast unmerkliche Twist, der „Wahre Lügen“ erst interessant macht und ihm eine ähnlich tragische Qualität wie in „Exotica“ oder „Das süße Jenseits“ verleiht. Nach dem Urteil der MPAA jedoch muss der Film wohl etwas anders gelesen werden als von Egoyan geplant: als Metakommentar auf die Bigotterie der amerikanischen Unterhaltungsindustrie – der Gegenwart.

„Wahre Lügen“. Regie: Atom Egoyan. Mit Kevin Bacon, Colin Firth u. a. USA/Kanada/Großbritannien 2005, 108 Min.