„Kinder für Lobbyarbeit benutzt“

Migrantenverbände haben die Debatte um eine Deutschpflicht in Schulen unnötig angeheizt und instrumentalisiert, sagt SPD-Chef Müller. Berlin mache in Sachen Integration „Schritte nach vorn“

taz: Herr Müller, Sie kritisieren die Reaktion der Migrantenverbände in der Debatte um eine Deutschpflicht auf Schulhöfen. Warum?

Michael Müller: Ich fand es erschreckend, wie schnell sie bei einem so sensiblen Thema mit Begriffen wie „Nationalismus“ oder „Sprachverbot“ hantieren. Schließlich geht es um eine freiwillige Vereinbarung zwischen Schülern, Eltern und Lehrern. Die Wortwahl der Migrantenvertreter erweckt aber den Eindruck, es würde ein Zwang gegen Migranten ausgeübt.

Wem genau werfen Sie das vor?

Wenn türkische Verbände von einem „Sprachverbot“ sprechen, ist das eine unzulässige Zuspitzung, die kontraproduktiv wirkt. Die Cheflobbyisten der diversen Verbände sprechen momentan eher für ihre Funktionäre als für die betroffenen Eltern und Schüler. Es ist doch unbestritten, dass Spracherwerb bessere Integrationsmöglichkeiten schafft. Die Verbandsvertreter können sich gut verständigen und sind gut vernetzt. Aber es kann ihnen nicht egal sein, in welcher Lage andere sind.

Wie erklären Sie sich das Verhalten der Migrantenvertreter?

Sie beziehen die Legitimation ihrer Arbeit daraus, dass sie ihre kulturelle Identität pflegen. Das ist ihr gutes Recht. Natürlich haben die Funktionäre ein großes Interesse daran, dass Eigenheiten erhalten bleiben – offensichtlich will man mehr bewahren als integrieren. Aber zur Integration gehört, dass man sich öffnet. Die Diskussion muss sachlich geführt werden, damit Lehrer und Kinder wieder in Ruhe arbeiten können. Im Moment werden sie benutzt – für Lobbyarbeit.

Könnte es nicht sein, dass die Migrantenvertreter deshalb so emotional reagieren, weil sie immer wieder mit Klischees konfrontiert werden – etwa in der Diskussion um den Muslim-Test?

Der Einbürgerungsfragebogen in Baden-Württemberg hat nichts mit gelungener Integrationsarbeit zu tun. Ich verstehe, dass da Frust entstehen kann …

zumal die Migrantenvertreter Hauptansprechpartner für deutsche Journalisten und Politiker sind.

Sicher. Bei zu vielen Deutschen herrscht die Meinung vor: Wer hierher kommt, muss sich einfügen, so leben und sprechen wie wir. Diese Denkweise ist falsch und gestrig. Deshalb ist mir die Unterscheidung zwischen Familie und Schule, zwischen privatem und öffentlichem Raum sehr wichtig – natürlich kann jeder privat die Traditionen pflegen, die er will. Aber wenn jemand im öffentlichen Raum eine Chance haben will, muss er sich verständigen können.

Was hat die aufgeheizte Debatte bewirkt?

Grundsätzlich ist sie sehr wichtig, aber es wurde auch viel kaputt gemacht – eigentlich sind wir bei der Integration ja sehr weit. Die Mehrheitsgesellschaft macht inzwischen viel mehr und bessere Angebote, was sie über Jahre versäumt hat. Immer mehr Migranten ist klar, dass sie diese Angebote annehmen müssen, damit sie und ihre Kinder Chancen in der Gesellschaft haben.

Aber die Politik hat keineswegs ausreichend Integrationsangebote gemacht. Die Landes-SPD hat 1987 zum ersten Mal beschlossen, das kommunale Wahlrecht für Ausländer zu fordern, und es ist bis heute nicht durchgesetzt.

Zugegeben, auch innerhalb der SPD gab es über Jahre die Haltung, die Migrantenverbände werden am besten wissen, wie sie sich integrieren, wir halten uns raus. Aber durch unsere Bildungspolitik hat es eindeutige Schritte nach vorn gegeben – mit Angeboten in der Kita für Mütter, für Familien, es gibt vorschulische Deutsch-Kurse und Sprachstandstests. All dies kann nur funktionieren, wenn Migranten die Angebote nicht als Zwang, sondern als Chance empfinden.

Was verstehen Sie unter gelungener Integration?

Ein Miteinander, nicht ein Nebeneinander. Ich habe den Eindruck, dass viele heute damit zufrieden sind, wenn die verschiedenen Ethnien ruhig nebeneinander leben. Wirkliche Begegnung oder kulturelle Durchmischung findet zu wenig statt. In Berliner Kiezen mit hohem Migrantenanteil sind beide Seiten zufrieden, wenn man sich in Ruhe lässt. Das ist zu wenig.

Wie kann die Politik „wirkliche Begegnung“ in Neuköllner Kiezen organisieren?

Das geht natürlich nicht per Beschluss. Integration muss wachsen. Und dieser Prozess läuft am besten über Kinder und Jugendliche. Ein neues Verständnis des Miteinanders entwickelt sich langsam in Schulen oder Kitas, Kinder sortieren Ihresgleichen nicht in Ethnien ein.

Aber in der Realität passiert das Gegenteil – deutsche Eltern schicken ihre Kinder gezielt auf Schulen, an denen nur wenige Migrantenkinder lernen.

Das wird sich in den nächsten Jahren ändern. Das Betreuungsangebot wird durch unsere Schulreformen bunter, vielfältiger und attraktiver sein. Wenn eine Schule zum Beispiel ein besonderes musisches Angebot macht, bestimmte Sportkurse oder Arbeitsgemeinschaften, wird es auf Dauer keine Rolle mehr spielen, wie viele Kinder aus deutschen oder Migrantenfamilien kommen.

Interview: Alke Wierth

Ulrich Schulte