Das Tal der Gebührenlosen

Neuer Terror durch die GEZ: ARD und ZDF wollen Ex-DDR-Bürger schröpfen

90 Prozent der DDR-Bürger konsumierten regelmäßig Westfernsehen und -radio

ZDF-Intendant Markus Schächter drückte diesmal keine zwei Finger vors Auge („Mit dem Zweiten sieht man besser!“), sondern schlug die Hände vors Gesicht. Er konnte einfach nicht glauben, was ihm da im Konferenzzimmer „Traumschiff“ auf dem Mainzer Lerchenberg präsentiert wurde. Auch Kollege Fritz Pleitgen und die anderen eingeladenen Chefs der ARD-Anstalten waren entsetzt, als sie auf die Zahlen starrten, die ein Overheadprojektor an die Wand warf.

Es waren Zahlen des Grauens, die Reiner Dickmann von der Kommission zur Überprüfung und Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) vortrug. Laut seinen Berechnungen drohen den Öffentlich-Rechtlichen Einnahmeverluste von jährlich 753 bis 822 Millionen Euro, was immerhin elf bis zwölf Prozent des gesamten Gebührenaufkommens entspricht. Der Grund: immer mehr Gebührenbefreiungen für sozial Schwache. Und auch die schlechte Zahlungsmoral der deutschen Fernsehzuschauer und Rundfunkhörer wirkt sich aus.

Damit droht den Öffentlich-Rechtlichen ein weiteres Finanzdesaster, nachdem ihnen schon die Einnahmen aus der Schleichwerbung wegbrechen. Und das in einer Situation, in der die Personalkosten, insbesondere die Pensionszahlungen, unaufhörlich steigen. Hinzu kommt, dass auch die Gebühreneinzugszentrale (GEZ) in Köln mit ihren 993 festen und 2.000 freien Mitarbeitern immer mehr Geld kostet. Der Etat der Behörde (2004: 142 Millionen Euro) ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen – wegen „Maßnahmen zur Hebung des Teilnehmerpotenzials“. So wird das oft hinterhältige Treiben der Inkassobüttel in verharmlosendem Amtsdeutsch umschrieben.

Wie das konkret funktioniert, hat ein anonymer GEZ-Agent aus MDR-Mitteldeutschland kürzlich im Focus (3/2006) enthüllt. Der Schwarzseherjäger auf Provisionsbasis verriet, dass ihm alle Bürgermeister die Einwohnermeldeämter öffnen würden, damit man an die Daten der potenziellen Gebührenpreller käme. Da können die Datenschützer noch so ningeln, beim Geld hört der Spaß an der Rechtstreue schließlich auf.

Trotz aller Erfolge der GEZ-Kundschafter an der unsichtbaren Front – allein für den MDR wurden 2004 9,4 Millionen Euro Nachgebühren erwirtschaftet – dürfte sich die Finanzlage von ARD und ZDF weiter verschärfen, wenn die Einnahmeseite nicht radikal verbessert wird. „Wenn wir uns jetzt nichts einfallen lassen, können wir die erste Reihe vergessen, und unsere Renten auch“, kommentierte ein erregter Fritz Pleitgen die Zahlen und erntete bei den Kollegen in der illustren Runde vielfaches Nicken. „Um das Duale System zu unseren Gunsten zu erhalten, brauchen wir Wandel durch Annäherung an Mehreinnahmen“, beschwor WDR-Intendant Pleitgen die versammelte Infoelite in Mainz.

Die Lösung kam laut Protokoll, das der taz vorliegt, vom Vertreter des Bayerischen Rundfunks. Angeblich ein Stoiber-Spezi, der 2005 durch das überraschende Wahlverhalten der Frustrieren im Osten um einen hohen politischen Posten gekommen ist. Sein hochbrisanter Vorschlag: Alle Ostdeutschen, die schon in der DDR über 18 Jahre waren und einen eigenen Haushalt führten, sollen GEZ-Gebühren für die Zeit nachzahlen, in der sie die Westprogramme einfach mitguckten!

Über den „Traumschiff“-Saal legte sich Schreckensstille, in die hinein der BR-Mann rasch seine Idee erläuterte. Auf die DDR-Schwarzseher sei er durch eine Studie der Birthler-Behörde gekommen, der zufolge rund 90 Prozent der DDR-Bürger vor 1989 regelmäßig Westfernsehen und -radio konsumierten, teilweise jahrzehntelang. Immerhin gab es fast in der ganzen DDR Westempfang. Nur die Bewohner im so genannten Tal der Ahnungslosen in Teilen Sachsens, vor allem rund um Dresden, waren abgeschnitten.

Da die DDR von der Bundesrepublik nie als eigener Staat völkerrechtlich anerkannt wurde, gehörte die DDR ohnehin grundgesetzlich zu einem einzigen großdeutschen Sende- und Gebührenzahlergebiet. Und das, so der BR-Referent, wäre die Lücke, in die die GEZler stoßen könnten. Im Einigungsvertrag von 1990 seien Gebührennachzahlungen für die DDR-Bürger jedenfalls mit keinem Wort ausgeschlossen worden.

Die TV-Gewaltigen im „Traumschiff“ schwankten zwischen Ergriffenheit und Ungläubigkeit. Teilweise mit offenen Mündern verfolgten sie die weiteren Ausführungen des bayerischen Gebührenretters. In den Anstaltsspitzenköpfen ratterte das Zahlenwerk: 1.000 Euro pro Ossi aus der Ex-DDR, macht bei vielleicht noch zehn Millionen Leuten rund zehn Milliarden Euro! Zu schön, um wahr zu sein, aber warum eigentlich nicht einfach wahr machen … GUNNAR LEUE