Das Unpersönliche der Orte trügt

Kann man das Erhabene und das Lächerliche im Landschaftsbild ausbalancieren? James Bennings Filmessays bringen einen auf solch erstaunliche Ideen, so auch „One Way Boogie Woogie/27 Years Later“ über seine Heimat Milwaukee im Forum

VON DIETMAR KAMMERER

Eine Rezension zu James Bennings Film-Doppel „One Way Boogie Woogie/27 Years Later“ dürfte nur aus ganz einfachen Sätzen bestehen. Als reines parataktisches Nacheinander. Einer nach dem anderen. Geht aber nicht, weil Film- und Alltagssprache nun einmal unterschiedlichen Regeln und Freiheiten gehorchen. Sechzig Einstellungen zu sechzig Sekunden in fester Kameraposition hat Benning 1978 rund um Milwaukee gedreht. Die Einminüter sind wie gewohnt Kompositionen von berückender Schönheit: Horizontlinie, Himmel, im Vordergrund spielt sich etwas ab, den Hintergrund dazu bilden Ansichten von rostenden Industrie- und Gewerbelandschaften.

Das Unpersönliche der Orte trügt: denn hier hat der Filmemacher schon als Kind gespielt, wie er erzählt. Eine Welt der Waagerechten, hier strebt nichts nach oben. James Benning vermisst den filmischen Raum vor der Kamera, mitunter legt er sogar Messlatte und Maßband an. Jede Szene ist eine choreografische Miniatur, sorgsam arrangierte Wirklichkeit: Auf eine Bewegung von rechts antwortet eine Bewegung von links. Menschen, Eisenbahnen, Autos und Lastwagen queren die Szenerie. Aller formalen Strenge zum Trotz offenbart der Film aber eine geradezu kindliche Freude am Verspielten: Wer nur die späteren Arbeiten von Benning kennt, ist überrascht, wie er Konzept und Komik, das Erhabene und das Lächerliche hier ausbalanciert.

Das Rezept ist öfter erstaunlich simpel: Eine Spannung, die durch die Konfrontation von Off-Sound und Bild entsteht, entlädt sich bei Auflösung der Szene in Gelächter. Beim Anblick eines immensen Kieshügels hören wir das dieselschwangere Brummen eines nahenden Schwertransporters. Wie riesig mag er sein? Fehlanzeige – es spaziert bloß ein kleiner Junge durchs Bild, der einen Spielzeuglastwagen hinter sich herzieht.

Jede Szene ist auf solch eine Pointe hin zugespitzt, und sei es nur, um eine erwartete Lösung zu unterlaufen. Umgekehrt kann der Sound auch täuschen – wir glauben, ein gewaltiger Schrotthaufen würde unaufhaltsam polternd näher kommen, aber es ist nur ein junger Kerl, der einen Stock an einem Metallzaun entlang klappern lässt.

Vielleicht müsste man Benning einmal als stoic comedian begreifen, als eine Art umgekrempelten Buster Keaton: Der blieb ja sogar noch unbewegt, als hinter ihm eine Hausfront auf ihn herabstürzte. Bei Benning hat der Zusammenbruch des Hintergrundes, der amerikanischen Industrien und der Ökonomie, bereits stattgefunden, aber die Menschen stehen noch davor herum und treiben munter Schabernack.

Jedes Bild in Bennings Filmen hat seine Geschwister, wie Diedrich Diederichsen an dieser Stelle einmal geschrieben. Mit „27 Years Later“ hat der Regisseur seinem früheren Film eine ganze Generation von Nachkommen verpasst. 2005 kehrt er an die Orte von „One Way Boogie Woogie“ zurück und wiederholt präzise die Arrangements, behält aber die ursprüngliche Tonspur bei. War das alte Filmmaterial von Primärfarben bestimmt, herrscht jetzt eine klare, nüchterne Farbpalette, als wären die ersten Bilder nur ein Traum gewesen. So wird dem ersten Film, der bereits eine Etüde über das Gedächtnis des Kinos und die Errettung einer verfallenden Wirklichkeit war, eine Übung in der je individuellen Erinnerung des Kinozuschauers übergestülpt. Erkennt man die jeweilige Szene sechzig Minuten später wieder?

Manchmal hat sich alles verändert, manchmal nur Details. Gebäude sind verschwunden oder renoviert worden. Die Protagonisten sind selbstverständlich älter geworden, manche tauchen gar nicht mehr auf. Leonard Cohen singt: „You’re living for nothing now, I hope you’re keeping some kind of record.“ Bei Benning ist die Gegenwart melancholisch geworden, das Vergangene ist die Erinnerung an die Freiheit des Spiels.

„One Way Boogie Woogie/27 Years Later“. Regie: James Benning. USA, 121 Min. Arsenal, 10. 2., 19 Uhr, Delphi Filmpalast, 11. 2., 16 Uhr, Arsenal, 12. 2. 17.30 Uhr