LSD in den Reiswein geschüttet

Der Schrecken um Mitternacht: Im Programm des Forums wird der japanischen Meister der Hölle, der Regisseur Nakagawa Nobuo, wiederentdeckt. Beim Hin- und Weggucken staunt man über die Grausamkeit und entdeckt ungewohnte Verwandtschaften mit alten Gemälden und späteren Filmen

VON DETLEF KUHLBRODT

Die Mitternachtsschiene des Forumsprogramms wird in diesem Jahr mit Filmen des japanischen Regisseurs Nakagawa Nobuo bestritten. Der 1905 geborene Nakagawa begann 1929 als Regieassistent und Drehbuchautor, bevor er ab 1935 innerhalb des japanischen Studiosystems Filme realisierte, die doch sehr eigen waren. Bis zu seinem Tod 1984 drehte Nakagawa Nobuo 97 Filme unterschiedlichster Genres und wurde vor allem bekannt durch seine in den Fünfziger- und Sechzigerjahren entstandenen Krimis, Horror- und Geisterfilme. Seine Antihelden stattete er mit einer von der japanische Mythen- und Geisterwelt geprägten Symbolik aus mit vielen wiederkehrenden poetischen Motiven wie Brücken und Rädern.

Vielleicht, weil Horrorfilme zur Zeit in Japan äußerst beliebt sind, ist man dabei, die Werke dieses lange Zeit übersehenen Regisseurs wiederzuentdecken und sie als stilistisch ausgefeilte Vorreiter der B-Movies, etwa von Hammer Films oder Roger Corman, zu begreifen. In der zeitlichen Distanz tritt deutlich zutage, was Nakagawas für ein großes Publikum gedrehten Filme aus der Durchschnittsware der damaligen japanischen Massenunterhaltung hervorhebt. Teils überrascht auch im Zeitalter weit fortgeschrittener Illusionstechniken das Gemachte in Szenen, die damals die Zuschauer geschockt haben mögen: etwa die aufwändige Höllendarstellung in „Jigoku“(1960). Und man fragt sich, ob das womöglich wie ein Verfremdungseffekt bei Brecht gemeint war.

Wie auch immer. Meist gehe es in den Filmen Nakagawas um das Karma („Go“), das Gesetz von Ursache und Wirkung also, sagt der Schauspieler Kawabe Shuji, der oft bei Nakagawa spielte. Er erwähnt, dass an der Haustür des Regisseurs ein Schild mit der Aufschrift: „Go-ryu Nakagawa Gyosai dojo“ (Nakagawa Gyosai School of Go) hing und Nakagawa einen Gedichtband mit dem Titel „Go“ überschrieb.

Das gemeinhin durch Räder symbolisierte Karma erfüllt sich in fast allen seiner Filme: Die bösen Taten einer Person werden im Jenseits oder nächsten Leben bestraft, die Helden sind den Folgen ihrer Taten ausgeliefert. Am deutlichsten sichtbar ist das in „Ghost story of Yotsuya“ (1959) und „Jigoku“ (1960).

„Jigoku“ mit seiner mehr als halbstündigen Darstellung der Hölle ist wohl auch Nakagawas wildester Film. Besonders interessant scheint mir das Auseinanderklaffen zwischen amerikanischen Sehnsuchtselementen – Jeunesse dorée, Cool Jazz, amerikanische Autos etc. wie bei Suzuki oder in den Romanen Murakamis – und der ausufernden Bestrafungsfantasie am Ende. Am Anfang fährt der Collegestudent Shiro mit seinem Kommilitonen Tamura durch die Gegend. Sie biegen in eine dunkle Straße ein, überfahren versehentlich einen betrunkenen Yakuza und begehen Fahrerflucht. Shiro will sich der Polizei stellen, doch das Taxi mit dem er, begleitet von seiner ihm versprochenen Frau, zur Polizei fahren will, verunglückt; die schöne Yukiko, die ein Kind von ihm erwartet, ist tot.

Dies und das und noch mehr passiert: Shiro wird aus Schwäche in Sünden verstrickt; sein Kumpel Tamura ist eine Art Mephistopheles. Alles geht sehr angenehm und stilvoll seiner Wege bis zu einem Fest. Jeder auf diesem Fest hat den Tod eines anderen, intentional oder nicht, durch Unaufmerksamkeit jedenfalls, verursacht und plötzlich, als hätte jemand LSD in den Reiswein geschüttet, sind alle in der Hölle und ein visueller Höhepunkt folgt nun dem anderen.

Mit wenig mehr als Trockeneis, farbigen Scheinwerfern und einer überhitzten Fantasie hat Nakagawa zusammen mit seinem Ausstatter Kurosawa Haruyasu eine Hölle entworfen, die damals einmalig war und heute immer noch erschreckt und beeindruckt. Diese buddhistische Hölle, die für jedes Verbrechen eine ihm entsprechende Folter bereitstellt, ist durchaus westlich – also von Hieronymus Bosch und Dante – beeinflusst und besteht aus unterschiedlichen Höllenkreisen.

Aus dem Boden albtraumhafter Landschaften sprießen Schwerter, Menschen werden zersägt und wieder zusammengesetzt; in einem See aus Blut treiben die Wollüstigen, die sich verbotenen Lüsten hingegeben hatten. In einem Kreis der Hölle werden Kinder nicht so sehr dafür bestraft, dass sie sich das Leben nahmen, sondern vor allem dafür, dass sie vor ihren Eltern starben. Der teils schuldig, teils unschuldige Shiro muss sein ungeborenes Kind finden, das wie Moses auf dem Wasser eines buddhistischen Styx treibt, um aus dem Schlamassel wieder rauszukommen.

Beim Hin- und Weggucken denkt man teils an Kubricks „Space Odyssey“, teils an Pasolinis „120 Tage“. Das Ausmaß der grausamen Bestrafungen, die 1960 ja noch viel krasser gewirkt haben müssen, scheint – darauf deuten einzelne Nebenstränge der Geschichte – mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun zu haben; den grausamen Verbrechen, die im Namen Japans vor allem in China verübt wurden, dem Schrecken der amerikanischen Atombomben, die eine kollektive Aufarbeitung der eigenen Verbrechen verhinderten.

Entspannend und sehr angenehm kommt dagegen der 1949 fertig gestellte „Lynch“ daher, eine Art japanischer Film noir, der von einem Mann erzählt, der im Auftrag eines Verbrechersyndikats eine goldene Buddhastatue stiehlt, was ihm letztlich nichts als Ärger einbringt. Besonders gut an diesem eleganten Schwarz-Weiß-Film, der sich konsequent auf die Seite der Erniedrigen und Beleidigten stellt, gefällt mir ein Gangster, der ständig beim Autofahren trinkt. Den wunderschön ausgestatteten, sehr actionreichen, teils auch recht grausamen Samuraifilm „Okatsu the Avenger“ (1969) möchte man allen Freunden des Schwertkampffilms nahe legen. Wie in fast allen Eastern und Western geht es um Rache. Interessanterweise ist die Rächerin eine Frau, die in ihren emanzipatorischen Zorro-Elementen manchmal an die indische Actionheldin „Fearless Nadia“ erinnert. Die aus der Vogelperspektive aufgenommenen Totalen eines zweistöckigen Bordells und seiner Bewohner gehören zu den visuellen Höhepunkten dieses Films. Ein wenig schade nur, dass am Ende ein mysteriöser Kopfgeldjäger auftaucht, der noch stärker zu sein scheint als die Heldin.

Ein großartiger Klassiker des japanischen Horrorfilms ist „Ghost Story of Yotsuya“ (1959), über den im Programmheft die schönen Sätze stehen: „Nakagawa konzentriert sich in diesem schönen Film auf die quälende Sehnsucht verspotteter Menschen nach Liebe und Erfolg.“

Die Nakagawa-Nobuo-Reihe beginnt am Samstag, um 14 Uhr, im Delphi und wird ab 20. Februar im Arsenal wiederholt