„Ich brauche keinen Star, ich brauche eine Mannschaft“

Grantler, Angler, Weißbiertrinker? Klaus Augenthaler kann es nicht mehr hören: Der Weltmeister über seine Abneigung gegen Schubladen und falsche Stars. Über den Versuch, beim VfL Wolfsburg Realismus und Anspruch zu justieren. Und ein Geheimnis: Er trinkt lieber Rotwein als Weißbier

INTERVIEW PETER UNFRIED

taz: Herr Augenthaler, Sie sind Fußballweltmeister, Niederbayer, sprechen kaum, angeln gern und trinken Weißbier. Ist der Forschungsstand korrekt zusammengefasst?

Klaus Augenthaler: Ach. Wer ich bin oder wie ich bin, das weiß meine Lebenspartnerin. Sonst kann das doch kein Mensch beurteilen. Ich war drei Jahre in Nürnberg, danach zwei in Leverkusen, irgendwann hörte ich, ich sei ein Grantler.

Sind Sie keiner?

Ein Grantler ist in Bayern oder Niederbayern nichts Schlimmes. Ich kenne auch den Vorwurf: Der spricht zu wenig mit der Mannschaft. Wo kommt das denn her? Das wird irgendwann behauptet, dann wird das aufgegriffen, und schon ist man in der nächsten Schublade.

Es könnte also sein, dass Sie Thomas Mann lesen.

Ja, könnte. Es weiß ja keiner, was ich zu Hause mache.

Aber der Weißbier-Mythos stimmt?

Auch so ein Unsinn. Nur weil man irgendwann mal bei der vierten Meisterschaft der Bayern oder beim Aufstieg mit Nürnberg mit einem riesigen Weißbierglas vor der Kamera war. Das ist noch eine Schublade: Bayern müssen Weißbier trinken. Mehr noch: Die schütten sich das Weißbier kübelweise runter.

Was ist wahr?

Ich trinke zu Hause viel lieber Rotwein als Weißbier. Aber das weiß auch kein Mensch.

Spätburgunder?

Nein, Italiener. Hin und wieder auch einen Chilenen.

Herr Augenthaler, Sie trainieren nach Bayer Leverkusen mit dem VfL Wolfsburg wieder ein Team, dem man ein so genanntes Charakterproblem unterstellt. Ist Charakter trainierbar?

Bedingt. Man muss sich die passenden Spieler zusammensammeln.

Ist Identifikation mit Werksclubs zu viel verlangt, während der Profi bei Bayern oder Schalke blutenden Herzens rennt?

Glauben Sie, dass sich beispielsweise ein Ailton mit Schalke identifiziert hat?

Klären Sie uns auf.

In dem Moment, in dem er ein Tor geschossen hat, vielleicht. Das Problem hat nichts damit zu tun, ob es sich um einen Werksclub oder einen Traditionsclub handelt. Das Problem ist, dass die Fluktuation der Spieler zu groß ist. Dass es kaum mehr Spieler gibt, die für einen längeren Zeitraum bei einem Verein sind und sich mehr und mehr mit diesem Verein identifizieren. Nehmen Sie zum Beispiel Kahn oder Scholl bei Bayern. Da ist etwas gewachsen.

Mit Andres D’Alesssandro hat ein herausragender Spieler Wolfsburg verlassen, auch wenn er seine Möglichkeiten selten voll ausgeschöpft hat.

Dieser Satz ist ein Widerspruch in sich. Wie kann einer herausragend sein, wenn er seine Möglichkeiten selten ausschöpft?

Ein Widerspruch, stimmt. Sagen wir: Er hatte Phasen …

Phasen? Ich habe drei Jahre gebraucht, um Nationalspieler zu werden. Und in den drei Jahren habe ich konstante Leistungen gebracht. Ich wäre nie Nationalspieler geworden, wenn ich pro Jahr vier oder fünf gute Spiele gemacht hätte. Diese Konstanz verlange ich auch als Trainer von den Spielern. Wenn einer oder zwei nicht mitmachen, dann hast du fast keine Chance, das Spiel zu gewinnen. Als ich anfing bei Bayern, spielten da Franz Beckenbauer und Gerd Müller …

die beiden größten deutschen Fußballer aller Zeiten …

… aber die zwei haben der restlichen Mannschaft nie das Gefühl gegeben, dass sie die Superstars sind. Ein Star wird von außen gemacht. Aber ein wahrer Star fühlt sich nicht als Star. Nehmen Sie Ronaldinho …

… der im Moment als bester Spieler der Welt gilt.

Ronaldinho will Fußball spielen. Er will arbeiten, dass er weiterhin gut Fußball spielen kann.

Liegt es an ihm oder am Trainer?

In erster Linie an ihm. Der Trainer kann nur Hilfestellung geben.

Fernsehen und Boulevard huldigen nach wie vor dem klassischen Star, der mal oben und mal unten ist, aber immer Schlagzeilen hergibt.

Aber ich als Trainer brauche keinen Star, ich brauche eine Mannschaft, die funktioniert. Wenn eine Mannschaft funktioniert, dann werden ein, zwei eventuell zum Star gemacht von der Öffentlichkeit. Dann muss man den Spieler beobachten. Fühlt er sich als Star oder fühlt er sich weiterhin als Mitglied der Gemeinschaft?

Ihr niederländischer Innenverteidiger Kevin Hofland sagt, er würde zum Wohle der Gemeinschaft „auch mal einen Mitspieler beleidigen“. Gut so?

Ja.

Haben Sie ihn damit beauftragt?

Nein. Beleidigen heißt ja nicht, jemanden zu so anzugreifen, dass der zwei Wochen beleidigt ist. Die Fußballsprache ist auf dem Platz eben nicht die reinlichste. Es werden auch mal Schienbeine poliert. Danach muss ich das ansprechen, muss sagen, es tut mir leid. Und dann wird das nicht nachgetragen, sondern ist erledigt. Darum geht es.

Geht es um das Setzen von Standards? Bei den Bayern, zum Beispiel, darf keiner sagen, dass Zweiter auch okay ist. Sonst gibt’s Ärger.

Der Kodex bei Bayern ist ein wenig so, das stimmt: Wenn du Zweiter bist, dann bist du ein Verlierer. Aber es ist auch kein Problem, wenn Bayern durch Pech Zweiter geworden ist. Man darf nur nicht vorher sagen: Ich verdiene ja gutes Geld, und Zweiter ist auch nicht schlecht.

Was ist der Minimalstandard in Wolfsburg?

Genau hinschauen, wer mitzieht. Ich habe gelesen, dass es Spieler gibt, die auf die Frage „Was ist dein Ziel?“ antworten: Die Karriere beim VfL zu beenden. Wo gibt es denn so was?

Das zeugt von Treue.

Aber das ist doch kein Ziel, seine Karriere zu beenden! Pokalsieger werden oder sogar mal Meister, das ist ein Ziel.

Und wenn einer sagt, er möchte seine Karriere auf keinen Fall in Wolfsburg beenden?

Das muss nicht negativ sein.

Beliebt macht man sich damit auch nicht.

Vielleicht will der Spieler damit sagen, dass er etwas bewegen oder erreichen will. Ich habe manchmal das Gefühl, manchen Jungs reicht es, wenn sie einen Vertrag unterschrieben haben. Ich habe mich mit Händen und Füßen wehren müssen, in diesem Haifischbecken FC Bayern. Heute verdient so mancher mittelmäßige Bundesliga-Spieler zu viel, das ist das Problem. Oftmals ist es doch heute so: Wenn einer einen Vertrag unterschreibt, hat er praktisch ausgesorgt.

Sie reden viel von Bayern, müssen sich jetzt aber auch mit Wolfsburg identifizieren.

Ich bin keiner, der denkt, na ja, zwei Jahre habe ich einen Vertrag, die sind mir sicher, dann kommt auch wieder ein neuer Verein. Ich denke, wenn man wirklich authentisch und ehrlich arbeitet, kommt man auch ein ganzes Stück weiter mit den verantwortlichen Leuten, die zuständig sind für die Entwicklung des Vereins. Wichtig ist, dass die Sache vom ganzen Verein realistisch gesehen wird.

Fußball wird von vielen zum Träumen benutzt. Wo ist die Utopie, wenn Sie sagen, wir waren Achter und dann Neunter, und nächstes Jahr werden wir wieder Achter? Und das ist mit unserem Etat auch logisch.

Nein, selbstverständlich kann man träumen. Ich träume auch, dass ich vielleicht alle Spiele gewinne. Aber für mich geht es darum, herauszufinden: Wie weit ist die Qualität da für eine neue Zielsetzung? Wie viele Leute braucht man, um vielleicht ein neues Ziel rauszugeben? Was will VW?

VW hält 90 Prozent an der VfL-GmbH. Was will VW?

Darüber werde ich mit den Verantwortlichen reden. Die Leute, die lange im Geschäft sind, wissen, was an finanziellen Mitteln benötigt wird, um höhere Ziele anzugehen. Und das ist noch keine Garantie. Darum ist es wichtig, dass man sich die Spieler genau ansieht. Wie ist ihr Charakter? Ist das einer, der das Spiel gewinnen will? Oder habe ich da einen, der den Finger aus dem Fenster hält, und wenn Nordwind weht, dann ist das für ihn ungünstig?

Sie haben angefangen, das Dreiwettertaft-Moment im Team zu stärken. Planen Sie einen Totalumbau?

Ein mittelfristiger Umbau dauert drei bis fünf Jahre. Wo hat jemand so viel Zeit? Das funktioniert so: Wenn man anfängt und holt Spieler, die einschlagen, dann sind das die richtigen und es geht weiter. In Leverkusen beispielsweise wurde die Qualität abgebaut und die Zielsetzung ist mehr oder weniger gleich geblieben. Das war nicht mehr realistisch.

Sie mussten im Herbst nach vier Spieltagen gehen.

Auch wenn ich versuche, alles zu verstehen: Man kann beim Fußball nicht immer alles verstehen.

Wolfsburg ist wie Leverkusen ein junger Bundesligastandort ohne Geschichte. Sie sind der erste Weltmeister dort.

Es ist nicht entscheidend, ob jemand Weltmeister ist. Entscheidend ist: Was bist du für ein Typ? Wie arbeitest du? Entscheidend ist, dass man kein Schauspieler ist, sondern authentisch. Dass man vermittelt, was man rüberbringen will. Ich war bei verschiedenen Vereinen, ich habe kein einziges Mal gehört, dass die Leute „Trainer raus“ geschrien hätten. Die Fans haben ein ganz feines Gespür dafür, wie jemand arbeitet. So bin ich aufgewachsen, so ist meine Karriere vorangekommen, nur durch harte Arbeit.

Sie können nicht ausblenden, dass Sie Teil eines Showgeschäfts sind.

Das war mit der Grund, weshalb ich 1997 ins Ausland gegangen bin. Ich hatte damals aus der Bundesliga Angebote, habe aber das Gefühl gehabt, dass damals alles ranissimo war. Und der Moderator wichtiger als der Studiogast.

Ist das jetzt anders?

Das ist immer noch Fußball und kein Zirkus. Die Show findet im Stadion statt.

Beim Fernsehfußball ist die Trainer-rein-Trainer-raus-Frage Hauptbestandteil der Show.

Wenn das stimmt, dann ist das wie früher im alten Rom.

In Rom holten Sie den WM-Titel. Werden wir diesmal Weltmeister, Herr Augenthaler?

Papst sind wir ja schon.