Konsequentes Drüber-Sein

Musik, die sich nackt macht, die ihr Konzept leidenschaftlich verlautbart, die ihr Ding durchzieht, dazu das Glück der Inkommensurabilität: Eine Rückschau auf den heute schließenden Club Transmediale

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Dreist, frech, gewagt, kühn, wagemutig, verwegen. Das alles kann das Wörtchen „bold“ bedeuten, übersetzt man es vom Englischen ins Deutsche. Was passieren kann, wenn man es vom Englischen in die Musik übersetzt, das hat der Club Transmediale (CTM) in den letzten acht Tagen vorgeführt. Und eins vorweg: Er hat zwar sehr frei übersetzt, ist aber nicht in der Übersetzung verloren gegangen.

Man hätte das Motto „Bold“ mit „voll auf die Neun“, „was bratzt, kickt und bolzt“ oder mit anderen Spielarten von marktschreierischem Oberflächen-Rumgerempel gleichsetzen können. Das haben die Organisatoren aber nicht getan. Ihr Fokus lag nicht vordergründig auf Pogo, Stagediving, Brüllen, Abtanzen und Faustballen, sondern auf Konsequenz: Musik, die sich selbst nackt macht, die ihr Konzept leidenschaftlich verlautbart, MusikerInnen, die ihren Auftrag kennen, die ihr Ding durchziehen, die sich nicht zu schade sind – und die den Zuhörern immer wieder ein wunderbares Geschenk machten: Das der Inkommensurabilität. Das große Glück, befremdet zu werden, erstmal nichts zu schnallen, nur zu denken: Huau, was zum Teufel...? – beim CTM konnte man es dieses Jahr erleben.

Ein dickes rosa Schwein mit einer Handkonsole durch die Maria humpeln zu lassen, die Geschlechtsteilen nicht abgeneigten Popgraffitis der Gruppe Antistrot zu betrachten oder sich die zehnte frische Frühlingsrolle im Geräuschteppich des Frühlingsrollenmacherraumes reinzuziehen – das waren so die lustig-dekorativen Randerfahrungen des Festivals Den ersten „Bold“-Nerv traf der Abend „Sciak! Aaargh!“ am Samstag. Ein bisschen in der Tradition des im letzten Jahr innerhalb des CTM stattfinden Breakcore-Festivals „Wasted“ taten super ausgeflippte Japaner, wovon man immer denkt, was ausgeflippte Japaner tun. Doddodo zum Beispiel verunglimpfte ihre schulmädchenhaft ungelenke Anmutung, indem sie Banjo-Country mit asiatischer Folkore, Big Beat mit Breakbeats vermanschte und ihr Mikrofon an einer lila Partygirlande tanzen ließ. Gulpepsh, dessen komplettes Gesicht einerseits von einer monströsen Russenfellmütze, andererseits von anderthalb Meter langen Haaren verdeckt war, dehnte den Möglichkeitsraum des Human Beatboxing bis weit an die Ränder der Galaxis. Danach berserkte der König des Winnetou-Looks Ove-NaXx zu Death-Metal-Samples und Sounds im Futur II-Modus.

Dem Berserktum abgeschworen dagegen hatten die beiden Hauptacts beim „Metal Gravitron“ am Sonntag. Hier bekamen stumpfe Headbanging-Aficionados mit Konzeptkunst auf die Mütze: Die Bands Orthrelm und Al Naafiysh machten aus der dumpf-empathischen Metal-Ursuppe einen unnachgiebigen Hirnfick: Militärisch exakt arrangierten sie zwei Versuchsanordnungen – das schwanzgesteuerte Gitarren-Solo als statischer, niemals endender Minimal Music-Loop und das Breitwand-Riff-Intro als nie vorankommende Repeat-Schleife. Zwei intellektuelle Ansätze, die Lautstärke goutierende Kopfmenschen und zur Meditation neigende Dauerkiffer gleichermaßen faszinierten.

Das eigentliche Gravitationszentrum des Festivals aber war der lächelnde Jean-Jacques Perrey. Er ließ den CTM zu einem Derivat der DDR-Jugendweltfestspiele werden: Umarmt und mit Tränen der Rührung in den Augen stand das Fashion-affine junge Publikum gedrängt, als der 76-jährige Reich-Ranicki-Lookalike in seinem übergroßen Goldsakko so tat, als würde er auf seinem Tastenklangerzeuger Ondioline seine verspielten Space-Melodiechen live zum Besten geben, und dann noch ein Plüschelefantentier als Partner auf den Synthesizer setzte. Nie mehr will man vom Generationenkonflikt hören! Konsequentes Drüber-Sein ist eben doch der Schlüssel zum Glück!

Die beiden Pole Intellekt und Spiel verbanden sich am Donnerstag in der Person des Dänen Goodiepal. Der bärtige Schrat schaffte es mit Eloquenz und wunderbarster leise tönender Experimentierfreude, das Verspielte, Mystische, Kindliche zu einer starken Bastion gegen den Mainstream-Pop zu machen. Langsam verschob er in selbstvergessen gottgleicher Pose kleine Planetenmodelle, pfiff dazu Bänkelweisen und begleitete sich auf einer Lochkarten-gespeisten Drehorgel. Als er schließlich den „Mechanic Bird“ auspackte, kam man sich endgültig vor wie in einem zauberkräftigen Kuriositätenkabinett: ein kleines mechanisches Wunderwerk, ein kleiner Vogel unter einer Glasglocke, aufgezogen und zum Singen gebracht durch hauchfeine Drähte, über die sich ein dünnstimmig zwitschernder Klangerzeuger modulieren ließ. Dass Goodiepal mit dieser Maschine auf den Färöer-Inseln Insassen von Irrenanstalten heilt, wie er behauptete, möchte man inbrünstig glauben.

Um solcherlei Merkwürdigkeiten zu entdecken und wieder richtig fiebrig neugierig zu werden auf die oft so lahme Musikproduzentengilde: Dazu ist der CTM da. Toll, was Menschen bewerkeln können, toll, wie viel Rückgrat Menschen haben, toll, wie viel Respekt sie sich gegenseitig für ihre Absonderlichkeiten entgegen bringen können! Da muss auch nächstes Jahr wieder sicher Geld fließen, lieber Hauptstadtkulturfonds – die Videoinstallation des Sponsors Diesel passte nämlich irgendwie nicht so gut ins Gesamtbild.

Heute letzter Abend Club Transmediale: 22 Uhr Pictoplasma-Screening, 23 Uhr: Modeselektor, Ellen Allien, Phon.O u.a.